Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Kirche in der Welt (Teil 8)

9. Januar 2000

Die Kirche als Rechts- und als Priesterkirche

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Kirche zeigt aufgrund ihrer Verfassung mehrere Eigentümlichkeiten. Zwei sind besonders auffällig und sollen heute im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen. Die erste Eigentümlichkeit ist darin gelegen, daß die Kirche eine religiöse Erscheinung ist und doch auch eine äußere, sichtbare, irdische, ja materielle Schauseite besitzt. Die zweite Eigentümlichkeit liegt darin, daß sie den Menschen die Erlösung vermitteln will, die Wahrheit und die Gnade Gottes, aber daß dies geschieht durch Menschen. Wir können diese beiden Eigentümlichkeiten in zwei Begriffe zusammenfassen, nämlich

1. Die Kirche ist eine Rechtskirche und

2. Die Kirche ist eine Priesterkirche.

Wenn Jesus seine Kirche mit Menschen versehen hat, die anderen vorangehen, die andere belehren und andere führen sollten, dann ergibt sich daraus ohne weiteres die Notwendigkeit, daß das Verhältnis dieser Menschen zu den anderen der rechtlichen Regelung bedarf. Jedermann muß wissen, wie die Menschen in der Kirche zueinander und übereinander stehen und wie sie gegenüber der Außenwelt sich zu verhalten haben. Es muß in der Kirche ein Verfassungs- und Personenrecht geben. Die einzelnen Einheiten, in die die Kirche sich entfaltet, bedürfen der Leiter. Eine Gemeinde hat an der Spitze einen Pfarrer; eine Diözese wird von einem Bischof geführt, und die Gesamtkirche untersteht dem römischen Bischof, dem Papst. Alle diese Bezüge und Beziehungen bedürfen einer sauberen rechtlichen Ordnung, damit keine Verwirrung eintritt. Jedermann muß wissen, von wem er etwas zu erwarten hat, an wen er sich wenden muß und bei wem er sich notfalls beschweren darf.

Die Kirche ist, wie wir gesehen haben, nicht Selbstzweck. Sie hat einen Zweck, und dieser ist darin gelegen, die Wahrheit und die Gnade Gottes den Menschen zu bringen. Die Wahrheit trägt die Kirche weiter in ihrer Verkündigung. Die Verkündigung ist vielgestaltig. Vom schlichten Lehren der Mutter oder des Vaters gegenüber den Kindern bis zu der Predigt des Priesters und der wissenschaftlichen Tätigkeit der Theologen führt die Verkündigung hinauf bis zu den Predigen des Bischofs, der ja der Lehrer seiner Diözese ist, und zu den Lehraussagen des Papstes, der der Lehrer der Gesamtkirche ist.

Diese Lehrverkündigung bedarf der Ordnung. Man muß wissen, wer lehren darf. Es muß auch feststehen, was gelehrt werden soll, und es müssen auch die Zeit und die Umstände angegeben werden, zu der und unter denen die Lehre sich vollziehen soll. Es müssen Lehre und Lehrabweichung voneinander getrennt bleiben. Ein Lehrrecht ist in der Kirche unentbehrlich. Wenn ein solches Recht nicht bestünde, dann würde die Willkür in der Lehre in der Kirche einziehen. Auch die Gnade, die zu den Menschen kommt, bedarf der rechtlichen Regelung. Die vielen gottesdienstlichen Vollzüge müssen sich in bestimmten Formen vollziehen, die sich aus dem Wesen der Kirche, aus dem Wesen des Glaubens und aus dem Wesen dieser Vollzüge selbst ergeben. Es muß ein liturgisches Recht geben. Die Menschen, welche in den Gottesdienst kommen, müssen sich darauf verlassen können, daß sie einen Gottesdienst erleben, der dem Glauben und der Ordnung der Kirche entspricht. Das Gegenteil der Ordnung ist die Willkür, und die Willkür vertreibt die Menschen aus dem Gottesdienst. Es muß ein liturgisches Recht geben. Die Ausdrucksgestalten des Gottesdienstes müssen geordnet bleiben, wenn immer in ihnen die Wahrheit und die Gnade Gottes zu den Menschen kommen sollen.

Verkündigung und Gottesdienst bedürfen räumlicher Subtrate. Man kann nur im Notfall auch unter freiem Himmel das Evangelium verkünden oder die Messe feiern. Normalerweise bedarf man der Räume für Unterricht und Unterweisung, für Lehre und Predigt, für Gottesdienst und Sakramentenspendung. Die Amtsträger der Kirche müssen unterhalten werden. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit von Kirchenvermögen. Das ist ein besonders heikler Punkt, denn die Menschen sind bei wenigen Dingen so allergisch wie bei dem Umgang mit ihrem Gelde. Deswegen muß ein Vermögensrecht geschaffen werden. Die Menschen, die das Vermögen einheben und verwalten, müssen zur Rechenschaft verpflichtet werden. Das Geld muß in der rechten Weise verwendet werden. Die Opfergaben der Gläubigen dürfen nicht verspielt und verschwendet werden. Es ist notwendig, daß die Kirche die Vermögensverwaltung rechtlich regelt.

Nun können auch in der Kirche Versagen und Schuld auftreten. Selbst Amtsträger können schuldig werden. Deswegen bedarf es in der Kirche eines Sanktionsrechtes, eines Strafrechtes. Die Kirche muß den Stab, den ihr der Herr anvertraut hat, zum Schlagen benutzen, wenn es erforderlich ist. Schon in der Urzeit der Kirche hat es ein solches Strafrecht gegeben, und zwar hat man damals wenig differenziert. Man hat immer gleich mit der schärfsten Strafe zugeschlagen, nämlich mit dem Ausschluß aus der Gemeinschaft der Gläubigen. Im Laufe der Jahrhunderte hat man die Strafen differenziert und unterschieden, je nach der Schwere des Vergehens und der Größe der Schuld, und das ist ja richtig. Und so ist im Laufe der Zeit ein Strafrecht aufgebaut worden, das gewissermaßen das scharfe Schwert der kirchlichen Amtsträger ist. Es gilt für die Gläubigen wie für die Priester. Die Priester werden normalerweise strenger bestraft als die Gläubigen, wenn sie sich verfehlen, denn sie unterliegen einem höheren Gesetz.

Auch in der Kirche können Rechtsverhältnisse unsicher werden. Es kann sich Streit erheben unter den Gläubigen, und es können Streitereien entstehen zwischen den Gläubigen und den Amtsträgern. Da bedarf es eines geregelten Verfahrens, um diesen Streit beizulegen, um ungeklärte Rechtsverhältnisse zu ordnen. Es kann jemand kommen und sagen: Ja, ich habe damals, als ich das Jawort bei der Eheschließung gab, gar nicht daran gedacht, eine Ehe zu schließen. Dann muß nachgeprüft werden, ob ein solcher tatsächlich keinen Ehewillen gehabt hat. Dazu bedarf es eines Prozeßrechtes. Die Kirche hat ein sehr fein ausgebautes Prozeßrecht entwickelt im Anschluß an das römische Recht.

Aus all diesen Beispielen ergibt sich, daß die Kirche eine Rechtskirche ist und sein muß. Es gibt aber wohl auf der ganzen Erde keine einzige Institution, die ein Recht von solchem Alter besitzt wie die Kirche; ihr Recht reicht zurück bis in die Urgemeinde von Rom und Jerusalem. Ihr Recht ist auch normalerweise frei von einem Zug, der uns beim weltlichen Recht immer so unangenehm auffällt, nämlich von der Willkür. Das kirchliche Recht erwächst aus ihrem Glauben, und es ist deswegen dem Glauben verpflichtet; es ist bekennendes Recht, und als bekennendes Recht muß es sich frei halten von jeder Willkür, es muß sachlich notwendig aus den Gegebenheiten des Glaubens erwachsen. Es gibt, glaube ich, keinen einzigen Paragraphen des Kirchenrechtes, der nur am Schreibtisch entstanden ist. Alles wächst normalerweise sachlich notwendig aus den Gegebenheiten von Wahrheit und Gnade. Und so vermag das Kirchenrecht auch das religiöse Leben zu schützen. Es kann das Leben nicht erwecken, das kann Recht überhaupt nicht, aber Recht kann Leben schützen, es kann Leben bewahren, und es ist gewissermaßen lebensnotwendig für die Kirche, daß ihr Leben der Wahrheit und der Gnade bewahrt wird. Diese hohe Aufgabe hat das Recht.

Es gibt Menschen, die der Kirche Vorwürfe machen, daß sie eine Rechtskirche sei. O, meine lieben Freunde, diese Menschen haben nichts verstanden davon, was an die Stelle von Recht tritt, wenn das Recht aufhört. Wo das Recht aufhört, da beginnt die Willkür, die Unduldsamkeit, die Selbstherrlichkeit der Menschen. Ich hatte einen Kollegen, einen Professor des Kirchenrechtes in Münster, der immer sagte, wenn man der Kirche vorwarf, sie sei doch eine Rechtskirche: „Ja, wenn sie es nur wäre!“ sagte er, „wenn sie es nur wäre!“ Und er spielte damit auf die Tatsache an, daß eben das Recht weithin unangewendet bleibt, daß man sich über das Recht hinwegsetzt, daß man es nicht genügend beachtet.

Die zweite Eigentümlichkeit der Kirche, die wir heute bedenken wollen, ist, daß sie eine Priesterkirche ist. Gott hat die Menschen nicht unmittelbar an sich gewiesen. Er hat sie nicht direkt zum Vater kommen lassen, sondern er hat sie an Menschen gewiesen, an Menschen, die sie zum Vater führen sollen. Das ist ganz deutlich bei der Verkündigung. Die Menschen sollen glauben. „Ohne Glauben ist es unmöglich, Gott zu gefallen.“ Der Glaube aber kommt vom Hören. Man kann aber nur hören, wenn gepredigt wird, und es kann nur gepredigt werden, wenn gesandt wird. „Wie lieblich sind die Füße derer, die das Evangelium verkünden!“ Es müssen also Menschen gesandt werden, die das Evangelium ausrufen und die Menschen zum Glauben führen. Das eben ist die erste und zunächst einmal dringendste Aufgabe der Priester. Eine zweite Aufgabe kommt ihr gleich. Die Zugehörigkeit zur Kirche wird nicht gewonnen durch den Einfall des Geistes, sondern die Zugehörigkeit zur Kirche wird gewonnen durch einen äußeren, sichtbaren Akt, den wir die Wassertaufe nennen. „Taufet alle im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!“ Die Sündenvergebung vollzieht sich nicht in einer plötzlichen Erleuchtung, sondern die Sündenvergebung ist in die Hände von Priestern gelegt, denen Jesus gesagt hat: „Welchen ihr die Sünden nachlassen werdet, denen sind sie nachgelassen, und welchen ihr sie behalten werdet, denen sind sie behalten.“ Die äußerste und höchste Gabe unseres Herrn, nämlich die heiligste Eucharistie, ist wiederum den Priestern anvertraut. „Tut dies zu meinem Andenken!“ hat er zu ihnen gesagt, als er bei ihnen war im Abendmahlssaale.

Wir sehen aus diesen Beispielen, daß die Wahrheit und die Gnade nur durch Vermittlung zu den Menschen kommt. Es bedarf der priesterlichen Hände, der priesterlichen Füße, des priesterlichen Mundes, damit die Wahrheit und die Gnade zu den Menschen gelangt.

Nun sind die Amtsträger der Kirche nicht allesamt Menschen von einer äußersten Gehobenheit des Geistes. Es sind nicht solche, die eine prophetische Inspiration haben. Es handelt sich dabei nicht um religiöse Genies oder um Heilige. Ja, nicht einmal alle haben die Gestalt des guten Hirten an sich. Und dennoch hat der Herr die Menschen an die Priester gewiesen. Er verlangt von ihnen den Akt des Glaubens und des Vertrauens und der Demut, daß sie sich zum Priester begeben und von ihm die heiligen Gaben entgegennehmen. Es ist das ohne Frage vielleicht die schwerste Bewährungsprobe unseres Glaubens, daß wir zu Menschen gehen müssen, die möglicherweise sittlich unter uns stehen, daß wir uns von Menschen belehren lassen müssen, denen wir unter Umständen geistig überlegen sind, daß wir Menschen gehorchen müssen, die selber vielleicht den Gehorsam nicht in vollem Maße leisten. Das ist wohl die schwerste Belastungsprobe für den Glauben, die schwerste Bewährungsprobe. Gerade die feinfühligen Menschen, gerade die Christus am nächsten gekommenen Menschen leiden unter diesen Verhältnissen. Mit äußerstem Schmerz und mit bitterem Weh vernehmen sie das Versagen von Priestern. Dennoch kann man auch an diesen Verhältnissen wachsen und reifen. Gerade daß wir an das objektive Gebot des Herrn gebunden sind, gerade daß wir zu Menschen gehen müssen, denen er seine Gaben und Werte anvertraut hat, obwohl sie äußerlich und vielleicht auch innerlich all diesen Gaben und Werten wenig entsprechen, gerade das kann uns über unsere Natürlichkeit hinausheben. Wir können daran lernen, daß wir Demut und Vertrauen entgegenbringen müssen, daß wir über uns selbst hinausschreiten müssen, über unseren Eigenwillen und unsere eigene Schätzung, daß wir uns unterwerfen müssen einem fremden Willen, weil Jesus es so gewollt hat.

Zum heiligen Franz von Assisi wurde einmal ein Priester gebracht, der Böses getan hatte. Die Menschen, die ihm den Priester zuführten, erwarteten, daß er ihm jetzt eine Strafpredigt halten werde. Was tat der heilige Franz von Assisi? Er ging auf den Priester zu und küßte seine Hände. Dann sagte er: „Daß diese Hände Böses getan haben, weiß ich nicht, aber daß diese Hände meinen Heiland getragen haben, das weiß ich.“

Wenn Christus gewollt hat, daß die Gnade und die Wahrheit uns durch Priester zukommt, dann muß er auch das Versagen von Priestern vorausgesehen haben. Und trotzdem hat er es getan. Es muß also eine große Kühnheit des Entschlusses in ihm gewesen sein und auch ein Wissen darum, daß er in dieser Kühnheit nicht enttäuscht wurde. Es ist doch immer so gewesen, daß Menschen leichter zu Menschen gehen als unmittelbar zu Gott. Die Tore zu Gott sind dunkel und lichtlos, und die Menschen sind eben geneigt, leichter zu einem Menschen zu kommen und von ihm etwas entgegenzunehmen. Der Mensch ist doch immer auch auf den Menschen angewiesen, und deswegen muß es auch so recht sein, wie Gott es gewollt hat. Im Laufe der 2000 Jahre Kirchengeschichte ist doch auch von Priestern ein unermeßlicher Segen auf das Volk geströmt. Mögen sie selbst nicht alleweile dem Anspruch entsprochen haben, der an sie gestellt wurde: Die Gnade und die Wahrheit haben sie verwaltet. Und es ist doch auch so gewesen, daß der Name Gottes dort am reinsten und andächtigsten angerufen wird, wo im Namen Gottes auch seine Amtsträger Verehrung und Liebe und Ehrfurcht empfangen. Die Religion ist dort am kräftigsten, hat sich dort am widerstandsfähigsten erwiesen, wo ihre Amtsträger die Verehrung und die zarte Liebe des Volkes empfangen. Wo die Menschen ihre Verehrung und ihre reine Liebe anbringen können, dort findet sich auch ihr Wollen und ihr Wirken.

Deswegen: Katholisches Volk, halte in Treue zu deinen Priestern!

Amen.

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