Die Wahrheit verkündigen,
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Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
Mensch
27. Oktober 2024

Genuss oder Entsagung

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Im Mittelpunkt der christlichen Religion steht ein Gehängter, ein Hingerichteter, ein Gekreuzigter. Da erhebt sich die Frage: Ist das Christentum nur eine Predigt des Leids, eine Verherrlichung des Leidens? Wenn es so wäre, wie stünde es da um die Freude, die wir doch als eine wahre Notwendigkeit des Lebens suchen und auch gewinnen müssen. Christus selbst hat sie uns gewünscht: „Dieses alles habe ich euch gesagt, damit ihr Freude habet und eure Freude vollkommen werde.“ Es besteht eine Spannung im christlichen Leben. Es ist die Spannung zwischen der notwendigen Lebensfreude und dem leidvollen Entsagen. Das Christentum spricht oft und eindringlich von der Notwendigkeit zu entsagen: „Enthaltet euch der fleischlichen Begierden, welche gegen die Seele Krieg führen“, mahnt der Apostel Petrus (1 Petr 2,11). Die Anweisungen zu einem höheren religiösen Leben kann man zusammenfassen in die zwei Worte: Sustine-abstine. Ertrage und entsage. In der Tat fordert das sittliche Gebot oft genug eine unbedingte und rücksichtslose Entsagung von uns. Um unseren Willen zu kräftigen für die Zeiten eines harten Kampfes, hat uns die Kirche weitere Entsagungen auferlegt, besonders auf dem Gebiet der Nahrungsaufgabe in Form von Fasten- und Abstinenzgeboten. Doch die Erfahrung lehrt, dass es Genussmöglichkeiten gibt, die den Menschen nicht herabziehen, sondern ihn geradezu heben. Jedes frohe Gefühl ist doch ein Genuss, und ohne Freude kann kein Mensch leben, menschlich und menschenwürdig leben. Es gibt Genüsse, an denen auch Christus nicht verschmähend vorüberging, zum Beispiel der Naturgenuss. Müssen wir wirklich das eine oder das andere wählen oder lässt sich beides in einer harmonischen Weise vereinigen? Man kann in der Tat zeigen, dass der Mensch, der beides verbindet, ein vollwertiger, ja ein vollkommener Mensch sein muss.

Die Freiheit ist bedroht vom Genuss. Jede Art von Genuss hat etwas Gewaltsames an sich. Er überwältigt den Menschen, er reißt ihn mit sich fort, und vor allem: er trägt in sich das furchtbare Gesetz der Unersättlichkeit. Jede Erfüllung bringt das Verlangen danach entweder gar nicht oder nur auf kurze Weile zum Schweigen. Seine Ansprüche melden sich immer wieder. Wenn sie auf Nachgiebigkeit treffen, werden sie immer energischer, ja immer drohender. So bedeutet jeder Genuss, jede Lust eine Bedrohung unserer inneren Freiheit. Wir werden ihm immer geneigter, wir werden versucht, ihm gänzlich zuzufallen, ihm zu verfallen, zu Sklaven seiner schmeichelnden Lockung, seiner Laune und seiner Unersättlichkeit zu werden. Darum heißt die erste Forderung, die wir in jedem Genuss unbedingt erfüllen müssen: Freiheit! Frei bleiben, innerlich frei! Nur der Mensch, der auch verzichten kann, der jederzeit ein Opfer an Lust, an Genüssen, an Bequemlichkeiten bringen kann, darf es wagen, in den Strom, ja in den Strudel und in den Sturm des Genießens hineinzugehen. Wenn er aber anfängt, sich zu verlieren, die ruhige Überlegung einzubüßen; wenn seine Lebensführung, sein Charakter, seine Pflicht anfängt zu wanken; wenn er bereits sein Leben und seine Lebenserfüllung abhängig macht von einer wechselnden Lust; dann ist seine Freiheit in Gefahr oder schon verloren. Dann kann nur die Entsagung retten, und Entsagung ist oft gleichbedeutend mit schleuniger Flucht, Flucht vor der Lust.

Gewiss, wir können nicht leben ohne Freude. Aber wir können leben, ohne an eine bestimmte Freude versklavt zu sein. Gerade diese Abhängigkeit nimmt der Freude das Beste, das sie hat: den Schimmer des Geistes. Von wahrhaft befreiender, erhebender, befruchtender Kraft ist nur die Freude, der man sich in völliger innerer Freiheit hingibt, in steter Bereitschaft auch zum Opfer, wenn das Opfer verlangt wird. Wenn irgendeine Freude Aussicht hat, mit uns gehen zu dürfen, unzertrennlich, auch noch in der Ewigkeit drüben, dann ist es die Freude, die wir jederzeit in Gottes Hände zu legen bereit sind. Auch der freie, zur Entsagung bereite Mensch wird noch oft genug in die Lage kommen, seine Bereitschaft erfüllen und tatsächlich verzichten müssen. Das wird dann geschehen, wenn der Genuss die Ganzheit seines Lebens bedroht. Der Mensch muss stets die Gesamtheit seiner Kräfte, seiner Aufgaben und seiner Verantwortungen berücksichtigen und erfüllen. Die Lust, die Freude, der Genuss ist immer nur ein Teil. Ein ganzer Mensch wird jede Einzelheit seines Lebens hineinstellen in einen harmonischen Zusammenhang. Er wird seine Erholungsstunden in Einklang bringen mit seinen Anlagen und Kräften und mit den Erfordernissen seines Berufslebens. Er wird sein Essen und Trinken abstimmen auf die wirklichen Bedürfnisse seines Körpers. Er wird das Zusammensein mit einem Menschen nicht trennen von der ungeheuren Verantwortung, die jedes Zusammensein mit einem Menschen uns auferlegt. Er wird das Vergnügen, das ihm von einer Frau zuteilwerden kann, nicht trennen von der Verantwortung für dieses Frauenherz, nicht trennen von der Verantwortung für das kommende Geschlecht, nicht trennen von der Verantwortung für Volk und Kirche. Ernste Menschen aller Zeiten haben eine gewisse Scheu und eine heilige Keuschheit in ihrer Seele getragen gegenüber jeder Art von Lust, auch wenn es nur die alltägliche Lust des Gaumens, des Essens und Trinkens war. Sie hatten ein sicheres Gefühl, dass es unstatthaft sei, sich eine Lust bloß um ihrer selbst willen zu verschaffen. Wir sollen uns auch in der harmlosesten Fröhlichkeit nicht der Ausgelassenheit hingeben. Wir dürfen nie vergessen, dass wir immer noch und in jedem Augenblick Kinder Gottes, Jünger Christi sind. Aber eine ganz lebendige und inwendige Beziehung zur Freude hat doch erst der gute Mensch. Denn für ihn ist der Genuss ein Quell, eine Kraft seines Lebens. Der gute Mensch ist der schöpferische Mensch, der aufbauend wirkt auch im Umkreis seines eigenen Lebens. Wer anderen dienen, andere beglücken und beleben will, wird es vielfach nur dadurch können, dass er selbst auf Eigenes verzichtet. Die nächste Äußerung der Güte ist eben doch das Schenken, also das Herz geben, das Entsagen für die eigene Person. Für den guten Menschen wird das Problem „Genuss oder Entsagung“ in erster Linie und auf weite Strecken gelöst zugunsten der Entsagung.

Aber ein freudeloses Leben wird er doch nicht führen. Denn wie könnte ein freudloser Mensch etwas verschenken? Alles Schenken hat doch nur dann einen guten Sinn und Wert, wenn es aus einer gewissen Freudigkeit kommt. Ein freudloser Mensch, der selbst nicht weiß, was Freude ist, kann nicht einfühlend, nicht warmherzig gut sein, wie könnte er sich mitfreuen, wie könnte er mitleiden? Nur dadurch wird der gute Mensch aufgeschlossen für andere, teilnehmend und mitteilend, dass er selbst der Freude in seinem Herzen Eingang gewährt. Der Mensch muss selbst lebendig sein, reich und hell, wenn er anderen etwas bedeuten soll, und diese Helligkeit gewinnt er nur durch die Freude. Es gibt auch ein Schenken, das nur mit einem gleichzeitigen Empfangen geschehen kann. Es gibt ein Mitteilen, ein Reich- und Glücklichmachen, das immer nur gleichzeitig und doppelseitig geschehen kann. So hat Jesus der liebenden Jüngerin gestattet, ihn mit ihrem kostbaren Nardenöl zu salben. Dieser Seele musste er unbedingt eine Freude schenken; aber er konnte es nur, wenn er sich von ihr beschenken ließ. Die Helligkeit, die von diesem Geschehen ausstrahlt, ist unermesslich größer und wohltuender als alle Almosen, die von dem Verkauf des Nardenöls hätten gegeben werden können. Die Armut aller Zeiten ist tatsächlich beschenkt worden in der Großzügigkeit, Herzensweite und Herzensgüte, mit der Jesus diese Huldigung angenommen hat. Es gibt seelische Haltungen, wo auch die Entsagung zum Genuss wird, wo man es nicht besser haben will als der Geliebte. So will die Seele ihrem Heiland ähnlich werden auch in Schmach und Schmerz; will es nicht besser haben, als er es gehabt hat; da will sie tatsächlich lieber entbehren als besitzen, und jede Behaglichkeit, die man notgedrungen genießt, macht schamrot im Angesicht des Gekreuzigten.

Christus hat den Seinen einen unbeschreiblichen Frieden verheißen. „In der Welt“, sagt er, „werdet ihr Bedrängnis haben, ihr werdet weinen und traurig sein. Aber meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden hinterlasse ich euch.“ Dem Menschen, der diesen Frieden hat, geht in allem Dunkel ein Licht auf. Und in allem Licht sieht er einen Schatten von Traurigkeit, der über allem Geschaffenen liegt. Der Genuss des Lichtes ist ihm also Glück und Leid zugleich; Genuss und Entsagung sind in eins zusammengeflossen. Es ist der Mensch, der in die Mitte vorgedrungen ist, wo alles eins ist. Und so wird er selbst zu einer Mitte für alle Geschöpfe, ob er sie nun zu sich kommen lässt oder ob er sie ziehen lässt in Entsagung. Sein Genuss wie sein Entsagen gereichen allen Dingen zum Besten. Er gleicht darin seinem Heiland, der die Welt erlöst hat durch die schmerzensreichen wie durch die freudenreichen und die glorreichen Geheimnisse seines Lebens.

Amen.

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