Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
8. Oktober 2023

Du sollst kein falsches Zeugnis geben

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Das achte Gebot lautet: „Du sollst kein falsches Zeugnis geben.“ So, wie das Gebot lautet, greift es nur einen bestimmten Fall heraus, der besonders praktisch und sozial wichtig ist, nämlich die Aussage als Zeuge vor Gericht. Aber in seinem inneren Sinn geht das Gebot auf das ganze Feld der Wahrheitsverwaltung und der Wahrheitsverwertung. Das falsche Zeugnis kann in doppelter Weise verheerend und verderblich sein, entweder weil es die Wahrheit unterdrückt oder weil es die Wahrheit missbraucht. In diesen beiden Richtungen liegen alle Möglichkeiten beschlossen, das achte Gebot zu erfüllen oder zu verletzten.

Wahrheit ist jede geistige Teilnahme an der Wirklichkeit. Wo immer ein Mensch eine Wirklichkeit geistig in sich aufnimmt und besitzt, hat er eine Wahrheit. Das kann eine ganz alltägliche und banale Tatsache sein, die er zur Kenntnis nimmt, oder es können die letzten und tiefsten Abgründe des Seins und des Lebens sein, in die er geistig hinabgestiegen ist. Von dieser Wahrheit sagt nun das Gebot des Herrn: Du sollst sie nicht unterdrücken. Es gibt ein rein äußeres Unterdrücken der Wahrheit. Unsere Welt, unser öffentliches und privates Leben, unsere Reden und Zeitungen, unsere Radiokommentare und Fernsehsendungen sind voll von diesen Unterdrückungsversuchen. Der geringste Fehltritt und jede Missetat eines Priesters werden gemeldet und der Öffentlichkeit unterbreitet. Das tagtägliche Mühen und Sorgen der Priester um die Seelen bleiben unerwähnt. So wird Feindschaft und Hass gegen die Kirche und ihre Güter erzeugt. Die Feinde der Religion, der Kirche, des Glaubens wollen verhindern, dass die Kunde des Evangeliums durch seine beauftragten Diener zu den Menschen dringt und sie aus ihrer Gottvergessenheit aufweckt. So oft wir unseren Mitmenschen an der Erkenntnis der Wirklichkeit, also an dem Erwerb der Wahrheit hindern wollen, unterdrücken wir die Wahrheit. Wir fürchten für uns selbst Nachteile, wenn er die Wirklichkeit sieht, wir fürchten seinen Wettbewerb, wir fürchten seine Tüchtigkeit, und so möchten wir ihn blind und unwissend halten, wir möchten ihn geradezu täuschen über seine wahren Interessen. Wir fürchten unseren eigenen Einfluss, unsere Vorrechte, unser Ansehen zu verlieren oder zu gefährden, wenn der Mitmensch die Wahrheit erfährt. Deshalb soll er nach unserem Willen unwissend und getäuscht bleiben. Das ist Unterdrückung der Wahrheit zugunsten unseres Privatnutzens, unserer Stellung, unserer Partei. Und selbst wenn wir zugunsten Gottes oder der Kirche oder der guten Sache die Wahrheit unterdrücken wollten – es wäre nicht nur ein schrecklicher Irrtum, sondern auch eine Missetat, eine Verletzung des achten Gebotes.

Wir unterdrücken sodann die Wahrheit, wenn wir den Mitmenschen hindern, der erkannten Wahrheit zu folgen, wenn wir ihn abwendig machen von seiner erkannten Pflicht und von seinem rechten Weg, wenn wir sein Gewissen stören oder gar vergewaltigen, wenn wir einen Zwiespalt hineinwerfen in sein eigenes Inneres. Das kann geschehen durch äußere rohe Gewalt, durch verführerische und schmeichlerische Reden, durch Einflüsterungen von falschen Propheten, die in Schafspelzen zu den Arglosen und Vertrauensseligen kommen. Sehen wir nicht, wie häufig, ja alltäglich diese Unterdrückung heute ist? Kann man nicht schier ununterbrochen auf Arbeitsplätzen und in Büros, auf gemeinsamen Fahrten und Wanderungen hören: Dies und das kann nicht Sünde sein, kann nicht schlimm sein, alle tun es, es ist Ergebnis, ja eine Forderung der Wissenschaft, des Fortschritts und der geistigen Mündigkeit. Die Wahrheit wird unterdrückt durch den tausendfachen Schrei der Vorlauten und Selbstsüchtigen, von denen die gewissenhaften Menschen eingeschüchtert, ausgelacht oder irre gemacht werden. Die mutigen Menschen, die den Marsch für das Leben veranstalten, um die Bevölkerung aufzurütteln, die Tötung der Ungeborenen einzustellen, werden von der Partei der Abtreiber bekämpft, gestört, verunglimpft. Sie wollen die Wahrheit unterdrücken, dass das millionenfache Abschlachten der Embryos ein ungeheuerliches Verbrechen gegen Gott und gegen das Volk ist. Gleichzeitig holen sie jedes Jahr hunderttausende Fremde ins Land, um die Verluste auszugleichen, die durch Abtreibung der nachfolgenden Generation entstehen.

Eine Unterdrückung der Wahrheit nach außen in anderen Menschen gäbe es gar nicht, wenn ihr nicht die Unterdrückung der Wahrheit im eigenen Innern voranginge. Es gibt die verhängnisvolle Kunst, auch vor sich selbst, vor dem eigenen Gewissen die Wirklichkeit zu verschleiern, ja zu verfälschen und so die Wahrheit zu unterdrücken. In der Tat muss ein Mensch in ungewöhnlicher Weise wahrhaftig und ehrlich sein, wenn er niemals sich selbst etwas vormacht, wenn er niemals sich selbst die Tatsachen beweist, die er wünscht, wenn er nicht immer wieder einen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund für sich zu gewinnen versteht. Der Mensch muss die innere Wahrhaftigkeit gegen sich selbst pflegen und aufrechterhalten. Er muss die Selbsttäuschungen abwehren, die aus sinnlicher Phantasie, aus Leidenschaft und Feigheit erwachsen.

Wenn das achte Gebot uns befiehlt, die Wahrheit nicht zu unterdrücken, sondern gelten zu lassen, dann bedeutet dieser Befehl auch, dass wir ununterbrochen und rücksichtslos uns selbst prüfen und richten müssen. Dass wir Misstrauen in unsere eigenen Einsichten setzen sollen, gerade dann, wenn diese Einsichten und Meinungen uns irdische Vorteile oder auch nur innere Befriedigung, Annehmlichkeiten und Triumphe des Rechthabens bringen. Ein heiliges Misstrauen ist uns geboten, wenn wir unsere eigenen privaten Wahrheiten zu entdecken glauben, die uns entfernen von der Gemeinschaft und von der Gelehrigkeit für das, was andere meinen und tun. Der heilige Paulus hat geboten, dass die Christen sich selbst richten sollen, bevor sie zum Mahle des Herrn hinzutreten. Dieses Richten ist ein Richterspruch der Selbstanklage und der Selbstbeschämung, der inneren Einkehr und Umkehr. In der Tat muss jeder wahrheitsliebende Mensch immer wieder in sich jenen heimlichen oder offenen Versuch entdecken, die Wahrheit zu unterdrücken, die unbequemen Erkenntnisse wegzuleugnen, die eigenen Fehler zu entschuldigen, als unerheblich hinzustellen. Er findet den furchtbaren Ausspruch des Psalmisten in sich bestätigt: Jeder Mensch ist lügenhaft. Es kommt ihm die Selbstanklage von Herzen, die ihn die Kirche beten lässt: dass ich gesündigt habe gar viel durch Gedanken, Worte und Werke, durch meine Schuld, meine gar große Schuld. Dann ist ihm das Demutswort des Hauptmanns von Kapharnaum keine leere Formalität: „Herr, ich bin nicht würdig.“ Dann ist er auch bereit, sich selbst anzuklagen vor dem Priester und in ihm vor der Kirche. Es ist eigenartig, dass wir gerade vor dem Höhepunkt des religiösen Lebens dazu erzogen werden, jeder Unterdrückung der Wahrheit in uns selbst entgegenzuarbeiten. Darin liegt ein Zeichen, dass wir erst recht in den Niederungen des Alltags allzu leicht solcher Unterdrückung schuldig werden, allzu leicht uns etwas vormachen und uns selbst ein falsches Zeugnis ausstellen.

Der zweite Teil des achten Gebotes lautet: Du sollst die Wahrheit nicht missbrauchen. Wir sind imstande unsere Seelenvorgänge, unser inneres Leben, unsere Gedanken und Bestrebungen zu verbergen. Unser inwendiges Bewusstsein ist in ein Geheimnis gehüllt, das kein anderer Mensch zu durchdringen vermag, wenn wir ihm nicht selbst Eintritt gestatten. Es ist die für unser Zusammenleben wichtigste Bedingung. Wir könnten unmöglich ein geordnetes und friedliches Zusammenleben pflegen, wenn wir nicht dieses Geheimnis besäßen. Darum ist es ein unveräußerliches Menschenrecht, dieses Geheimnis vor jedem unberechtigten Eingriff zu schützen. Und es ist oft genug nicht nur unser Recht, sondern sogar unsere Pflicht, dieses Wissen vor jedem Menschen zu verbergen als ein Berufs- oder Amtsgeheimnis, als Beichtgeheimnis, als anvertrautes Geheimnis. Das Zusammenleben der Menschen könnte nicht bestehen, wenn jeder beliebig in die Wahrheit des anderen einbrechen könnte. Denn diese Wahrheit ist ein Segen nur für den Menschen, der sie besitzt und in rechter Weise verwaltet. Darum verlangt das achte Gebot auch, dass wir nicht jedem beliebigen Menschen jede beliebige Wahrheit vor den Kopf sagen. Dass wir unsere eigenen Einsichten und erst recht unsere eigenen Meinungen nicht wahllos in die Seele der anderen werfen. Dadurch würden wir leicht und allzu oft Mitmenschen treffen und verwunden. Wir müssen die konventionelle Höflichkeit beachten. Wir dürfen nicht jedem Menschen, der uns vorgestellt wird, sagen und zeigen, wie gleichgültig oder wie lästig oder wie widerwärtig er uns ist. Diese Formeln, die uns helfen, den Mitmenschen vor verletzenden Erkenntnissen zu bewahren, sind dann keine konventionellen Lügen, wenn sie aus der heiligen Verantwortung entspringen, die sich wohl überlegt, was und wie viel man einem Mitmenschen preisgeben darf von dem Geheimnis unseres eigenen Denkens und Urteilens.

Erst recht und mit höchster Gewissenhaftigkeit muss das Geheimnis unseres Bewusstseins verwaltet werden vor den Menschen, denen wir verantwortlich als Erzieher, als Vorgesetzte, als Freunde oder als Ehegatten gegenüberstehen. Diese Beziehungen sind zart und empfindlich, zugleich entscheidungsvoll und lebenswichtig. Sie erlegen uns das größte Maß von beherrschtem Schweigen, von liebender Überlegung, von kluger Rücksicht auf. Gerade dann, wenn Zorn und Leidenschaft, Geringschätzung oder Rechthaberei dazu drängen, dem anderen Menschen etwas an den Kopf zu werfen, das er nicht ertragen könnte, das ihn verwunden müsste, dann ist es höchste Zeit, sich des achten Gebotes zu erinnern: die Wahrheit nicht zu missbrauchen, sie nicht zum Schaden eines Mitmenschen, zum Schaden der eigenen Seele zu gebrauchen. Der Christ soll die Herrschaft der Wahrheit in der Mitwelt fördern durch Belehrung der Unwissenden und durch Verteidigung der Wahrheit. Für die Äußerung persönlicher Überzeugung muss die christliche Klugheit, Nächstenliebe und Höflichkeit im Einzelnen den rechten Ort und das rechte Maß bestimmen. Das Recht, das Bewusstseinsgeheimnis zu wahren, ist kein absolutes. Wo die Mitteilung der Wahrheit notwendig ist, da gehört zum rechten Gebrauch der Wahrheit, sie als Mittel der Verständigung und der Aussprache, in Wort und Gebärde zu benutzen. Wo die Mitteilung der Wahrheit notwendig ist, dürfen wir diese Brücke von Mensch zu Mensch nicht einreißen. Wir mindern unsere Vertrauenswürdigkeit, wenn wir aus unsachlichen Gründen dem Mitmenschen die Wahrheit vorenthalten, auf die er ein Recht hat. Jeder besitzt seine eigene Wahrheit, aber nicht für sich allein, sondern auch für andere, und darum ist er auch verantwortlicher Verwalter seiner Wahrheit. Er wird zur Rechenschaft gezogen für jedes Wort, das er seinem Bruder sagt, aber auch für das Schweigen, mit dem er sich ungerecht oder lieblos vor dem Bruder verschließt. Darin liegt die Schwierigkeit dieses Gebotes: dass wir nur mühsam den Ausgleich finden zwischen der Aufrichtigkeit und der Barmherzigkeit, zwischen der Ehrlichkeit und der Klugheit.

Nun erkennen wir auch die Schwierigkeit, über die Wahrhaftigkeit oder die Unwahrhaftigkeit eines anderen Menschen zu urteilen. Es ist möglich, dass ein Mensch, wenn er ganz schlau, gewandt und zungenfertig ist, niemals auf einer unrichtigen Aussage zu ertappen ist. Und doch können solche Menschen von einer inneren Verlogenheit sein, die den Abscheu Gottes erweckt. Anderseits sind wir leicht bei der Hand, einen Menschen einen Lügner zu schelten, weil sein Mund zuweilen unrichtig aussagt. Und er ist doch vielleicht weit entfernt von Lüge. Der wahrhaftige Mensch ist der ehrfurchtsvolle Mensch, der vor der Wirklichkeit und vor dem Mitmenschen in gleicher Weise demütig steht, beladen mit heiliger Verantwortung. Auf der Schwelle seiner Seele kniet ein Engel, immerfort betend. Jede Wahrheit, die in seine Seele tritt, begrüßt er. Und jede Wahrheit, die aus der Tür seiner Seele tritt, geleitet er betend hinaus, zitternd und kniend in heiliger Verantwortung, flehend, dass sie zu einem Boten Gottes wird, zu einem Segen für die Geschöpfe, zu denen sie kommt.

Amen. 

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