22. November 2015
Wir werden schauen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir hatten vor zwei Wochen angefangen, uns zu fragen: Was erwartet uns nach dem Tode? Und wir hatten die Antwort aus der Offenbarung und aus der Vernunft gefunden. Und der erste Satz dieser Wahrheit lautete: Wir werden leben. Gott wirft uns nicht mehr ins Nichts zurück. Der zweite Satz lautete: Wir werden lieben. Wenn uns Gott nämlich zu sich beruft in seine Herrlichkeit, dann ist das der Zustand einer unermesslichen Liebe. Der dritte Satz, den wir uns heute vor Augen führen, lautet: Wir werden wissen. Die große Liebe ist auch das große Wissen. Wer nicht liebt, dem wird keine Erkenntnis erschlossen. Und nur der Mensch, der wirklich liebt, erfährt die Erhellung seiner Gesamtpersönlichkeit, wie es das Wissen verheißt. Da unser Leben drüben ein vollendetes Leben sein wird, wird es auch ein vollendetes Wissen sein.
Wir werden wissen, wie unser Gott ist, der Gott, an den wir geglaubt haben. Der Lohn für unseren Glauben wird sein, dass wir schauen, was wir glauben. Die Anschauung des göttlichen Wesens wird die Übung des Glaubens und der Hoffnung ablösen. Dann erfüllt sich das Wort des Herrn: „Selig, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Dann wird wahr, was Johannes schreibt: „Wir werden ihn schauen, wie er ist.“ Alle Zweifel werden gelöst sein, alle Unsicherheiten behoben. Niemand mehr wird zu uns sagen: Wo ist denn euer Gott? Dann heißt es nur noch: Der Herr, unser Gott, der Allmächtige herrscht, und wir sind seine Kinder und sein Volk. Einst bat der Apostel Philippus Jesus: „Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns.“ Jetzt heißt es: „Die Seligen sind vor dem Throne Gottes und dienen ihm Tag und Nacht, denn Gott wohnt bei ihnen.“ Die Seligen des Himmels sehen unmittelbar und unverhüllt Gott selbst von Angesicht zu Angesicht in klarer Schau. Die Gottesschau ist nicht ein neugieriges oder bewunderndes Anstarren der göttlichen Herrlichkeit, sondern es ist der liebende Blick in das entschleierte Antlitz Gottes. Die Gottesschau ist Begegnung des Menschen mit Gott. Gott und Mensch versenken sich ineinander zur innersten Verbundenheit der Liebe. Die Gottesschau bedeutet eine Vermählung zwischen Gott und dem Menschen. In mittelalterlicher Zeit haben die verschiedenen theologischen Schulen darum gerungen, zu erfahren, ob der Himmel zuerst eine Schau oder eine Liebe sei. Diese Kontroverse lässt sich sehr leicht lösen. Die Gottesschau ist ein vom Erkennen durchleuchteter Akt der Liebe, und sie ist ein von Liebe durchglühter Akt des Erkennens. Das Gottschauen müssen wir also ebenso sehr als schattenloses Erkennen wie als makelloses Lieben uns vorstellen.
Es wird eine Erfüllung sein, eine Erfüllung bis in die letzten Tiefen und Höhen unserer Seele. Der Himmel ist die höchste Verwirklichung des menschlichen Wesens. Im Himmel findet der Mensch ganz zu sich selbst. Er ist höchste von Gott gewirkte Aktivität; die Teilnahme am Leben Gottes bedeutet eben höchste Erkenntnis und innigste Liebe. Das ewige Leben übertrifft das irdische Leben an Lebendigkeit. Die Seligen leben in höchster Wachheit des Geistes und des Herzens. Sie besitzen sich so, wie man sich auf Erden überhaupt nicht besitzen kann, d.h. auch unser Bewusstsein wird im Himmel keine Verhüllung, keine Dumpfheit, keine Betäubung mehr kennen. Alles in uns wird wach und bewusst sein. Auch die Tiefen des Unbewussten und Unterbewussten, die uns ja hier aus weisen Gründen verborgen bleiben, auch sie werden sich im Lichte unseres Wissens zeigen, die Abgründe unserer Seele werden im Lichte unserer Liebe liegen. Was je gut war in uns, was je wie ein gutes Samenkorn in uns schlief, das wird jetzt aufwachen. Alle Gebete, alle guten Regungen, alle Wünsche und Werke, alle Einsprechungen Gottes, alles wird aufwachen in uns und mit der ganzen Tröstung uns bewusst werden. Es wird nichts mehr in unserer Seele sein, was nicht eingefügt wäre in das allbeherrschende Gesetz einer wissend gewordenen Liebe. Auf Erden mussten wir wie Paulus im Römerbrief sagen: „Das Wollen steht zwar bei mir, aber nicht das Vollbringen des Guten; nicht das Gute, das ich will, tue ich, sondern das Böse, das ich nicht will.“ Das war dieser Zwiespalt, dieser schmerzliche Zwiespalt in uns, er wird behoben sein. Es wird kein Spalt mehr sein zwischen Erkennen und Wollen, zwischen Empfinden und Streben, zwischen Pflicht und Neigung, alles in uns wird emporgehoben auf die Stufe einer großen und weiten Menschlichkeit. Es wird nichts Untermenschliches, nichts allzu Menschliches mehr in uns sein. Was wir an Kräften und Anlagen besitzen, wird entfaltet sein. Jede reine Sehnsucht, jede wirkliche Liebe wird mit hinübergehen, um ewig erfüllt zu leben. Wir werden endlich ganz und gar zu Menschen geworden sein, zu vollkommenen Menschen. Und diese Ganzheit wird uns bewusst sein, das wird unsere Seligkeit sein, die vollkommene Seligkeit, die wir erwarten. Wer überhaupt liebt, weiß, was es bedeutet, ganz und gar aus der Liebe zu leben. Man hat sich bemüht, die Formen und Umstände des ewigen Lebens zu deuten – ich glaube, dass es müßig ist, denn unsere Vorstellungen können auch nicht annähernd erreichen, was uns drüben erwartet. „Kein Auge hat es gesehen und kein Ohr hat es gehört, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben.“ Der Apostel Paulus hat den Unterschied zwischen dem irdischen Wissen und der himmlischen Erkenntnis hervorgehoben: „Jetzt schauen wir im Spiegel, dereinst aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich selbst erkannt bin.“ So wenig ein Träumender die Wirklichkeit erfassen kann, so wenig können wir vorausträumen, was uns erwartet. Alle Tiefen, alle Inwendigkeiten, alle Möglichkeiten unseres Lebens werden erfüllt sein. Es wird keine Unerfülltheit mehr, kein bloßes Wünschen, kein leerer Traum mehr sein. Der Apostel Johannes drückt in seiner Apokalypse diesen Zustand so aus: „Sie werden nicht mehr hungern und nicht mehr dürsten. Die Glut der Sonne und die Hitze wird sie nicht mehr brennen, denn das Lamm wird sie weiden und leiten zu den Wasserquellen des Lebens, und Gott wird abwischen jede Träne von ihren Augen.“ Alle Peinen, alle Leiden des irdischen Lebens sind vergangen. Anstelle von Not und Qual ist Freude und Ruhe getreten. Wir beten ja immer: „Gib ihnen die ewige Ruhe“; damit ist nicht die Ruhe der Untätigkeit gemeint, sondern das ist eine Ruhe von höchster Tätigkeit, die aber mühelos ist. Die Tätigkeit wird ohne Anstrengung und ohne Erschlaffung vor sich gehen. Der Himmel ist tiefste Ruhe in höchstem Tun und höchste Tätigkeit in der tiefsten Ruhe.
Aber wie wird es mit denen sein, die verlorengehen? Wie wird es mit denen sein, die in dem bösen Willen ihrer liebeberaubten Seele weiterleben müssen? Selbstverständlich werden sie das große Wissen, das die Liebe verschafft, nicht besitzen, aber sie werden wissen, dass sie die Liebe nicht haben und die Einheit und die Harmonie und die Seligkeit. Das werden sie wissen, und das wird sie mit höchstem Schmerz erfüllen. Ihre Leere, ihre Verlassenheit wird die letzte und äußerste Größe erreichen; die Ausgestoßenheit, sie wird nicht mehr zugedeckt sein. In diesem Leben machen wir Menschen uns oft etwas vor, da fällt häufig ein barmherziger Schleier auf unsere Erbärmlichkeit und unsere innere Hohlheit und Hässlichkeit. Aber dieser Schleier wird gehoben werden. Hier machen sich die Menschen etwas vor, reden sich selbst etwas ein, trösten sich gegenseitig. Auch von falschen Freunden wird ihnen Trost gespendet, Illusionen werden ihnen gemacht: Es ist alles nicht so schlimm. Drüben gibt es für den liebeleeren Menschen keine Verschleierung mehr, denn er ist ganz allein. Kein Mensch, kein Engel, kein Kind, keine Freude, keine Frau, kein Genuss, keine Beschäftigung, kein Spiel und kein Ziel kann ihn trösten. Er hat nur sein eigenes Ich, und das ist ein einziger, ungeheurer Abgrund von leerer Finsternis. Sein Bewusstsein wird also entblößt sein von jeder Täuschung, von jeder Selbsttäuschung, und diese Erkenntnis wird ihn durchbohren mit der Wut der Verzweiflung. Es bleibt ihm nichts mehr verborgen von allem, was er ist und was er getan hat. Es ist nichts darunter, was ihn trösten kann; er lebt in absoluter Hoffnungslosigkeit. So kommt es, dass auch die verlorenen Menschen in ihrer ewigen Hölle ganz bewusst und wach sein werden, dass auch sie ihr Leben mit einer verzehrenden Intensität führen. Jede Erbärmlichkeit, die in ihnen ist, wird ihnen bewusst in ihrer wirklichen Gestalt. Und so wird es ein leeres, ein sinnloses, ein gottloses und freudeleeres Leben sein, ein selbstquälerisches, im eigenen Wahnsinn sich verzehrendes Leben sein. Man kann sagen: Es wäre besser, der Mensch wäre nicht geboren. Das Leben der Verlorenen ist selbstverständlich ein ebenso unerforschliches Geheimes wie jenes der gottschauenden Seelen, ja, es ist vielleicht noch schwerer zu verstehen, denn die Sünde und die Bosheit ist eben unbegreiflicher als die Güte und die Liebe; der Hass ist abgründiger als die Liebe; die Finsternis ist unfassbarer als das Licht. Und deswegen hat es auch keinen Zweck, sich die Hölle auszumalen, wie es Dante in seiner „Göttlichen Komödie“ versucht hat. Was er da schreibt, ist eben auch nur ein Phantasieprodukt. Ich empfehle es Ihnen in dieser adventlichen Zeit, einmal die „Divina Commedia“, „Die Göttliche Komödie“ von Dante zu lesen. Aber auch das ist eben nur eine Vorstellung, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, so wenig wie das Vorstellungsvermögen eines Urwaldbewohners mit dem Weltbild eines Naturwissenschaftlers. Es wird dieser Zustand das sichere und ewige Los derer sein, die freiwillig und sündhaft und schuldhaft, ganz und mit ganzem Willen sich von Gott abgewandt haben und in dieser Gottentfremdung hinübergehen in die andere Welt. Hier ist das letzte und schrecklichste Geheimnis alles Daseins uns bewusst, hier rühren wir an den Abgrund der Verlorenheit.
Das sind die letzten Dinge, die ewigen Dinge: Himmel und Hölle. Um ihretwillen ist das Menschenleben das Größte, was es gibt, außer Gott. Es fängt klein und armselig an, aber plötzlich wird offenbar, was es ist. Es endet nicht im Nichts. Es endet entweder in einer unfassbaren Größe oder in einer unfassbaren Verlorenheit. Der Mensch ist umweht von der Tragik des Ewigen und Unendlichen. Bei Dostojewski, in einem seiner Werke, fällt ein heiliger Mann auf die Knie vor einem anderen, den man für einen Verbrecher hält. Er fällt auf die Knie ob des unendlichen Leids, das diesem Menschen bestimmt ist. Man müsste ebenso niederfallen vor jedem Menschen, entweder aus Ehrfurcht vor dem göttlichen Glückswunder, das über diesen Menschen einmal kommen wird, oder aus Entsetzen über den Dämon der Unseligkeit, der er einmal sein wird. Man weiß es nur nicht, aber eines von diesen beiden wird sicher an jedem Menschen erfüllt: an mir und an Euch. Was aber auch an uns geschehen mag, meine lieben Freunde, über allem wird die unfassbare Gewissheit stehen: Die Barmherzigkeit des Herrn bleibt in alle Ewigkeit.
Amen.