24. April 2005
Von der Erkenntnis Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Ich glaube an Gott.“ So beginnt das Bekenntnis unseres Glaubens, das wir in jeder heiligen Messe am Sonntag sprechen. Ich glaube an Gott. Dieser Satz führt uns in die höchste Wirklichkeit und in das größte Geheimnis hinein, in die Gotteswirklichkeit und in das Gottesgeheimnis. Aber da müssen wir die Frage beantworten: Trifft unsere Gotteserkenntnis wirklich ihren Gegenstand? Können wir überhaupt etwas Sicheres von Gott wissen? Gott ist doch fern. Ist er nicht so fern, dass unser Erkennen an ihn gar nicht heranreicht, dass wir wohl sagen können, dass er ist, aber nicht, wie er ist? Trifft also unsere Gotteserkenntnis das Wahre?
Im ersten Brief an Timotheus heißt es, dass Gott „in unzugänglichem Lichte“ wohnt. Das heißt, er ist über alles menschliche Begreifen erhaben, und er ist auch über jede menschliche Ausdrucksmöglichkeit erhaben. Was wir von ihm wissen und was wir von ihm aussagen können, das sind menschliche Worte. Menschliche Worte, die aber deswegen nicht falsch sind. Sie erschöpfen Gott nicht, aber sie erreichen ihn. Was wir mit unseren menschlichen Begriffen von Gott aussagen, das trifft Gott. Gewiß ist er unendlich erhabener, als wir denken und aussagen können. Die ganze Fülle seiner Herrlichkeit kann von uns nicht erkannt und auch nicht ausgesprochen werden. Aber was wir von Gott wissen, das ist richtig und wahr. Das ist das Entscheidende. Wenn wir keine wahre Gotteserkenntnis hätten, dann wäre alles Kirchenwesen und alle Freude über den neuen Papst vergebens. Alles hängt an Gott, und die Kirche ist das Geschöpf Gottes und die Dienerin Gottes.
Es gibt eine natürliche und eine übernatürliche Gotteserkenntnis. Schon aus der Natur, aus der Schöpfung kann man Gott erkennen. Das Erste Vatikanische Konzil hat diese Wahrheit als ein Dogma, als einen Glaubenssatz, formuliert, wenn es sagt: „Wenn einer sagt, der eine und wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne durch die Schöpfung mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft nicht sicher erkannt werden, der sei ausgeschlossen.“ Was das Erste Vatikanische Konzil hier erklärt, ist nur der Widerhall der Botschaft der Heiligen Schrift. Schon im Alten Testament, im Buche der Weisheit heißt es: „Es waren Toren alle Menschen, denen die Erkenntnis Gottes fehlte, die nicht vermochten, aus den sichtbaren Vollkommenheiten auf den Seienden zu schließen und bei der Betrachtung seiner Werke nicht den Künstler fanden. Denn aus der Größe und der Schönheit der Geschöpfe ist durch Vergleichen – durch Vergleichen! – deren Schöpfer zu erkennen.“ Im Neuen Testament wird dieselbe Wahrheit ausgesprochen im Briefe des Apostels Paulus an die Römer. „Sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit, ist seit Erschaffung der Welt durch das Licht der Vernunft an seinen Werken zu erkennen.“ Es gibt eine natürliche Gotteserkenntnis. Sie wird weit übertroffen von der übernatürlichen Gotteserkenntnis in der Offenbarung, aber sie beide zusammen liefern uns ein gültiges Bild von der Wirklichkeit und dem Wesen Gottes.
Wie ist Gott? Wir wollen vier seiner entscheidenden Eigenschaften betrachten, nämlich 1. Gott ist wirklich, 2. Gott ist persönlich, 3. Gott ist überweltlich und 4. Gott ist geistig.
Gott ist wirklich. Die Wirklichkeit Gottes erschließen wir aus dem Vorhandensein von Geschaffenem. Was wir in unserer Natur, in der Schöpfung erleben, das erklärt sich nicht aus sich selbst, das kann nicht aus sich selbst entstanden sein. Kein geschaffenes Ding ist aus sich selbst. Jedes muss aus einem anderen gekommen sein. Vom Huhn kommt das Ei, und aus dem Ei wird das Huhn. Vom Baum kommt die Nuß, und die Nuß erzeugt den Baum. Wenn man immer weiter zurückgeht, da muss einmal ein Anfang sein. Da muss einmal einer am Anfang stehen, der selber nicht geworden ist, der aber alles andere gemacht hat. Vor dem Geschaffenen muss der Schöpfer stehen. Und der ist anders als alles Gewordene. Er ist der Ungewordene, er ist der aus sich selbst Seiende, er ist der immer Seiende, der ewig wirkliche Gott. Und er ist der Lebendige. Alles Leben kommt von ihm. Omne vivum e vivo, so haben wir im Biologieunterricht richtig gelernt: Alles Lebendige kommt aus einem Lebendigen. Leben kommt nur vom Leben. Und der Erstlebendige, der oberste Lebendige, der in einem gewissen Sinne einzig Lebendige, nämlich aus sich selbst Lebendige, das ist Gott.
Schon die Heiden haben die Wirklichkeit Gottes erkannt. Der große Aristoteles schreibt einmal: „Es gibt einen ewigen Gott, die vollendete Schönheit und die höchste Güte, von dem Himmel und Erde abhängen, der unbewegt alles bewegt – der unbewegt (nämlich von einem anderen) alles bewegt – der unteilbar und unveränderlich in der Fülle seiner Seligkeit verharrt.“ So sprach der Heide Aristoteles. Die Offenbarung sagt uns noch deutlicher, dass Gott wirklich ist, dass er lebendig ist. „Ich bin der Ich bin“, so gibt er seinen Namen kund im 2. Buche Moses. „Ich bin der Seiende“, d. h. ich bin das Sein selbst. Er ist der „Brunnquell des Lebens“, wie ihn der Psalm 35 schildert. Er ist derjenige, der Leben ist und Leben gibt, die Quelle, der Brunnquell des Lebens der Schöpfung. Wahrhaftig, Gott ist das allerwirklichste Wesen, das allerrealste Wesen, die lebendigste Wirklichkeit. Gott ist wirklich.
Zweitens: Gott ist persönlich. Dass es irgend etwas geben muss, das geben auch Leute zu, die nicht unseres Glaubens sind. Es muss irgend etwas geben. Es mag einen wirklichen Gott geben, so sagen sie, aber er ist unpersönlich. Er ist eine unbewußt wirkende Kraft. Er ist das notwendig wirkende Weltgesetz. Er ist das unbewußt über der Welt waltende Schicksal. Die Heilige Schrift und die natürliche Erkenntnis belehren uns besser. Sie kennen Gott als einen persönlichen Gott mit allem, was zu einer Persönlichkeit gehört, also Selbständigkeit, Vernunft, Willen. „Gott denkt und lenkt“, so sagt es die Offenbarung. Er weiß und er will, er fügt und ordnet alles; er herrscht in souveräner Freiheit über seine Schöpfung. Nirgends, an keiner Stelle, schildert die Offenbarungsurkunde Gott anders denn als einen Lebendigen und Persönlichen. Und die natürliche Erkenntnis führt uns zu demselben Ergebnis. Wenn wir die wunderbare Ordnung am Sternenhimmel betrachten, die millionenfache Mannigfaltigkeit der Pflanzen- und der Tierwelt, die erstaunliche Zweckmäßigkeit alles Geschaffenen und die Krone der Schöpfung, den Menschen mit seinem Leib und mit seiner Seele, wenn wir das alles betrachten, dann können wir nur sagen: Wo eine solche Ordnung und Weisheit waltet, da muss ein ordnender und weiser Geist, ein persönlicher und denkender Gott am Werke gewesen sein.
Manche reden vom Zufall. O, meine lieben Freunde, der Zufall erklärt nichts. Der Zufall ist eine Chiffre für Gott. Das Buch, das du liest, ist nicht dadurch entstanden, dass man Buchstaben oder Sätze zusammenschüttete, die Uhr, die du mit dir trägst, entsteht nicht dadurch, dass man Teile der Uhr in ein Kästchen legt und sie sich von selbst zusammenfinden. So hat einmal einer gesagt: „Ich trage meinen Gottesbeweis in meiner Westentasche.“ Nämlich in der Uhr. Was ist ein Geschöpf, ein Buch, eine Uhr gegenüber der Schöpfung? Im Vergleich zur Schöpfung versinken sie und zeigen uns die überragende Weisheit des persönlichen Gottes. Nur zu einem persönlichen Gott kann man auch rufen und beten. Nur weil Gott Person ist, reden wir ihn als Vater an. „Du, Vater, du rate, lenke du und wende. Herr, dir in die Hände sei Anfang und Ende, sei alles gelegt“, so hat der Dichter Mörike einmal geschrieben. Nicht ein augenloses Schicksal sitzt am Webstuhl der Zeit, sondern die Vorsehung unseres treuen Gottes lenkt die Welt und ihre Geschicke. Gott ist persönlich.
Drittens: Gott ist überweltlich. Wo ist dieser Gott? Er ist wohl in der Welt, aber er ist nicht die Welt; die Welt ist nicht ein Stück von ihm. Er ist überweltlich; er ist transzendent. Er übersteigt die Welt. Die Welt kann ihn nicht fassen und umschließen. Er ist vor der Welt und vor den Menschen. Die Welt ist sein Geschöpf. Sie werden es vielleicht nicht erwarten, dass der ungläubige Philosoph Arthur Schopenhauer, der ja bei uns in Frankfurt gelebt hat, den Pantheismus, also die Lehre, nach der das Weltall Gott ist, energisch abgewiesen hat. Arthur Schopenhauer schreibt einmal gegen den Pantheismus: „Es müsste offenbar ein übel beratener Gott sein, der sich keinen besseren Spaß zu machen verstände, als sich in eine Welt wie die vorliegende zu verwandeln, in eine so hungrige Welt, um daselbst in der Gestalt zahlloser Millionen lebender, aber geängstigter und gequälter Wesen Jammer, Not und Tod ohne Maß und Ziel zu erdulden. Bei der Annahme des Pantheismus ist der schaffende Gott selbst der endlos Gequälte, und auf dieser kleinen Erde allein in jeder Sekunde einmal Sterbende. Solches ist er aus freien Stücken. Das ist – so schreibt Schopenhauer – absurd. Viel richtiger wäre es, die Welt mit dem Teufel zu identifizieren.“ Dass Gott ein überweltlicher Gott ist, sagt uns auch unser Gewissen. Wir wissen uns von einem Gesetz gehalten, dem wir nicht entfliehen können. Wir können versuchen, es zu unterdrücken, und das tun ja viele Menschen. Wir können versuchen, es zum Schweigen zu bringen, und das tun noch mehr. Aber das Gewissen lässt sich nicht auslöschen. Es lebt in uns eine Stimme, und sie ist der Widerhall des Gesetzes Gottes. Das Gewissen ist ein Bote und Herold Gottes. Es lebt ein Richter und Vergelter über uns, von dem der Heide Seneca – der Heide Seneca! – sagt: „Nahe ist dir Gott. Er ist bei dir, er ist in dir. Ja, ein heiliger Geist wohnt in uns und wacht über das Gute und Böse in uns.“ Das sagt, meine lieben Freunde, der Heide Seneca. Und die Heilige Schrift bezeugt es uns, dass Gott überweltlich ist. Bekanntlich ist Paulus in Athen erschienen und hat dort die vielen Altäre und Tempel bewundert. Dann hat er auf dem Areopag eine Rede gehalten, und in dieser Rede erklärte er: „Gott, der Herr des Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln noch lässt er sich von Menschenhänden bedienen, als ob er etwas brauchte, da er doch selbst allem Leben und Odem und alles gibt.“ Wahrhaftig, Gott ist überweltlich. Er ist nur einer; denn wenn mehrere Götter wären, dann würden sie sich gegenseitig die Herrschaft streitig machen. Wäre eine Mehrzahl von Göttern, dann würden sie sich selbst ins Gehege kommen, und keiner wäre ein absolutes Wesen. Gott ist überweltlich und doch einem jeden von uns nicht fern. Er ist der Schöpfer und der Erhalter und als solcher den Dingen gegenwärtig, aber er wird nicht von einem Raum oder von der Zeit eingeschlossen, er ist überräumlich und überzeitlich. Gott ist überweltlich.
Viertens: Gott ist geistig. Gott ist Geist. Muss man das noch sagen nach dem, was wir eben gehört haben? Wenn es schon geistbegabte Geschöpfe gibt, dann muss auch Gott, der Schöpfer, ein Geist sein. Der tote, geistlose Stoff kann niemals der Urheber des Lebens und des Geistes sein. Freilich ist Gott nicht ein Geist wie wir. Er ist der unendliche Geist. Zwischen dem Geist des Menschen, der geschaffen ist, und dem Geist Gottes, der ungeschaffen ist, besteht ein unendlicher Abstand. Wenn wir sagen: Zwischen der Sonne und einer Kerze besteht ein großer Abstand, so ist das ja richtig. Aber der Abstand zwischen dem göttlichen Geist und dem menschlichen Geist ist noch viel größer als der Abstand zwischen dem Sonnenstrahl und einer Kerze. Vor allem ist Gott ein Geist ohne Körper. Unser Geist hat einen Körper, der ihm dient und den er benutzt. Gott hat keinen Körper. Das ist kein Mangel; er braucht keinen Körper, deswegen hat er keinen Körper. Es ist auch kein Mangel, wenn ein Mensch keine Brille braucht. Wenn er gesunde Augen hat, kann er auf eine Brille verzichten. Aber unser Geist braucht das Auge, das Ohr und die anderen Apparate. Gott dagegen ist so vollkommen, dass er keine körperliche Hilfe braucht. Er hört, und er sieht, und er wirkt alles mit seinem gewaltigen Geist. Darum sagt Christus: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.“
Gott ist wirklich, Gott ist persönlich, Gott ist überweltlich und Gott ist geistig. So hat unsere heilige Kirche immerdar verkündet. Wenn die Kirche diesen Glauben nicht festgehalten hätte, dann wäre er schon längst untergegangen und versunken. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil hat die Kirche feierlich verkündet: „Die heilige katholische, apostolische, römische Kirche glaubt und bekennt, dass es einen wahren und lebendigen Gott gibt, den Schöpfer und Herrn des Himmels und der Erde, allmächtig, ewig, unermesslich, unbegreiflich, an Verstand und Willen und jeglicher Vollkommenheit unbegrenzt, ein geistiges Wesen, nach Sache und Wesenheit von der Welt unterschieden und über alles, was außer ihm ist und gedacht werden kann, unendlich erhaben.“ Nur einen solchen Gott, meine lieben Freunde, können wir lieben aus ganzem Herzen, aus ganzem Gemüte und mit allen Kräften. Nur zu einem solchen Gott kann man beten und ihm in ehrfürchtigem Dienst das Leben weihen. Lobet den Herrn, so singen wir im Kirchenlied, den allmächtigen König der Ehren. Lob ihn, o Seele, vereint mit den himmlischen Chören. Kommet zuhauf, Psalter und Harfe, wacht auf, lasset den Lobgesang hören!
Amen.