Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. Mai 2005

Gottes Geist in der Kraft der Sprache

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Zwischen dem Alten Bund und dem Neuen Bund besteht ein inniger Zusammenhang. Die Kirchenväter drückten diesen Zusammenhang aus, wenn sie sagten: Der Neue Bund ist im Alten verborgen, der Alte Bund ist im Neuen enthüllt. Das trifft genau zu auf die Ausgießung des Geistes. Hunderte von Jahren, bevor der Pfingsttag anbrach, hatte der Prophet Joel verheißen: „Ich werde meinen Geist über alles Fleisch ausgießen. Eure Söhne und eure Töchter werden prophezeien; eure Greise werden Träume haben; eure Jünglinge werden Gesichte schauen. Selbst über Sklaven und Sklavinnen werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen.“ Nun ist die Ausgießung des Geistes selbstverständlich zuallererst ein innere Phänomen. Der Geist befruchtet die Seele, das Innere des Menschen, sein Herz. Und deswegen ist dieser Vorgang nicht ohne weiteres von außen kontrollierbar. Aber Gott hat dafür gesorgt, dass symbolisch ausgedrückt wurde, wie der Geist ist und wie die sind, die den Geist empfangen haben. Er hat Symbole aus der Naturwelt und aus den menschlichen Dingen gewählt. Das erste Symbol war, wie wir gestern sahen, der Sturm. Der Sturm ist geheimnisvoll, frei und unwiderstehlich. Und so ist der Geist, und so sind die, die vom Geiste erfüllt sind: geheimnisvoll, frei und unwiderstehlich.

Das zweite Zeichen, in dem der Geist erschien, war das Feuer. Das Feuer ist hier nicht in seiner zerstörerischen Macht gemeint, sondern in seiner wohltuenden Kraft als Symbol der Liebe, als Symbol des Schöpfertums und als Symbol des Überströmens. So ist der Geist: voll Liebe, schöpferisch und überströmend, und so sind die vom Geist Geborenen. Sie sind von der Liebe erfüllt, sie sind schöpferisch und überströmend. Alle Kargheit des Herzens haben sie dahinter gelassen, das Kaninchenglück haben sie abgeworfen.

Aber noch ein drittes Symbol hat Gott uns gegeben, damit wir erkennen, wie der Geist ist und wie die sind, die aus dem Geiste geboren sind, nämlich das Symbol der Sprachengabe. In der Kraft des empfangenen Geistes konnten die Tausende, die da versammelt waren in Jerusalem, die Apostel verstehen, obwohl sie ganz andere Sprachen gelernt hatten. Es war ganz eigenartig. Sie wunderten sich, dass sie die Apostel, die doch alle Galiläer waren, in ihrer eigenen Sprache reden hörten. Und wie sie im Verstehen der Sprache eins wurden, so wurden sie auch eins im Verstehen der Liebe. Denn so schreibt die Apostelgeschichte von den ersten Christen: „Sie waren ein Herz und eine Seele.“ Es gab keine Spaltung und keine Trennung, es gab keine Missverständnisse und keinen Zank. Sie waren ein Herz und eine Seele. Das hat der Geist der göttlichen Liebe in ihnen bewirkt. Er hat sie alle eins gemacht im gegenseitigen Verstehen. Das ist es, was er auch heute tut, dass er uns lehrt, einander zu verstehen, wenn wir zueinander sprechen.

Die Sprache, meine Freunde, ist ein wunderbares Instrument des Menschengeistes, die Sprache, die wir lieben, vor allem die Sprache, die unsere Muttersprache ist. Man kann, glaube ich, nur eine einzige Sprache vollkommen beherrschen. Man kann andere Sprachen lernen, selbstverständlich, aber letztlich und völlig beherrschen kann man nur die Sprache, die wir von unserer Mutter lernten. Unglücklicherweise haben die Menschen viele Sprachen, und es ist sehr mühsam, sich gegenseitig zu verstehen und sich zu verständigen in den vielen Sprachen und Mundarten. Aber selbst wenn es nur eine einzige Sprache gäbe, wenn es gelänge, eine Weltsprache zu schaffen, die alle Menschen sich zu eigen machen, selbst dann, fürchte ich, würden wir uns noch schlecht verstehen. Denn die Sprache allein tut es nicht. Sie muss auch belebt und durchwärmt und durchströmt sein vom Geist, vom Geist der Liebe, vom Geist des Verstehens, vom Willen zur Verständigung. Wenn man sich nicht verstehen will, versteht man sich auch nicht, selbst wenn man die gleiche Sprache redet. Das ist der Geist der Liebe, und die Menschen, die ihn haben, verstehen sich oft, wenn sie eine andere Mundart sprechen, und die ihn nicht haben, verstehen sich nicht, auch wenn sie dieselbe Mundart besitzen.

Aber auch auf den Inhalt des Gesprochenen kommt es an. Von den Jüngern am Pfingstfest heißt es: „Sie verkündeten die Großtaten Gottes.“ Das war es, warum sie sich verstanden: Sie verkündeten die Großtaten Gottes. Solange die Menschen immer nur von ihren eigenen Taten und Großtaten reden, kann es nicht ausbleiben, dass ihre Meinungen auseinandergehen und sie einander nicht verstehen. Wer immer nur von den eigenen Großtaten voll ist, der kann die Großtaten auch der anderen Menschen, selbst wenn sie Wahrheit sind, nicht verstehen. Das ist der tiefste Grund, warum wir mit unserem vielen Reden einander nicht verstehen. Niemand versteht uns, denn wir reden immer nur von uns selbst, jeder von sich. Es fällt mir immer auf bei Jubiläen, bei Verabschiedungen, bei Begräbnissen, wie da die Taten, die angeblichen oder wirklichen Taten der Menschen gepriesen werden. Meine lieben Freunde, wenn es so wäre, wie diese Lobredner verkünden, dann müsste die Kirche in Blüte stehen. Aber sie steht nicht in Blüte. Wir sollen nicht verschweigen, was einer geleistet hat. Das ist durchaus berechtigt. Aber wir sollen auch sein Versagen bekannt geben, und wir sollen vor allem erwähnen, dass seine Taten Gottes Geschenke sind. Unsere Verdienste sind Gottes Geschenke. Wenn wir also von den Taten der Menschen reden, dann dürfen wir den nicht vergessen, der durch diese Menschen gewirkt hat. Vor allem aber lasst uns reden von Gott und seinen Großtaten. Laßt uns reden von den Interessen Gottes, von den Rechten Gottes, von dem Willen Gottes, von den Geheimnissen und von den Liebeserweisen Gottes. Davon lasst uns reden. Dann auch von der göttlichen Weisheit und Kraft, die in jedem Menschen offenbar geworden ist. Dann werden unsere Herzen und auch unsere Worte zusammenfinden, selbst wenn sie in jedem Munde verschieden klingen.

Wo ist nun der Geist Gottes? Es ist lange her seit jenem ersten Pfingstfest, aber das Kommen des Geistes ist nicht zu Ende. Es ist nicht verströmt. Immer noch rauschen Gottes Sturmwinde über der Erde, immer noch senken sich Gottes Feuer über uns herab. Aber nicht alle sind bereit, sie aufzunehmen. Auch an diesem ersten Pfingstfest waren es nur wenige, die Gottes Geist aufnahmen. Die große Masse der Hauptstadt Jerusalem blieb unberührt und vom Geiste nicht ergriffen; sie waren verschlossen. Für alle ist der Geist gekommen, aber nicht alle haben ihn aufgenommen und verstanden. Die Sonne scheint über öde Felsen, aber sie werden nur zerrissen von ihrer Glut. Der Geist schwebt auch über harten Herzen, aber sie werden nur härter, weil sie ihn nicht einlassen. Darum ist das Pfingstgeheimnis eine ernste Warnung und eine ernste Mahnung, ernst wie ein gewaltiges Rauschen: Heute, wenn ihr die Stimme des göttlichen Geistes hört, verhärtet eure Herzen nicht. Wenn ihr die Stimme des Sturmes vernehmt, verschließt eure Herzen nicht, die Stimme des Sturmes, die neue Herzen, einen neuen Willen, eine neue Liebe, eine neue Tat und ein neues Opfer verlangt. Wenn ihr die Stimme des Friedens, der Gnade, der Einheit und des Einverständnisses hört, verhärtet eure Herzen nicht! Wenn ihr sein Licht, seine Wahrheit, seine Einsprechungen vernehmt, verblendet eure Augen nicht! Wenn ihr seine Berührung verspürt, seinen Anhauch von Mahnungen und Warnungen in der Tiefe eures Gewissens, verschließet euch nicht!

Bald, meine lieben Freunde, ist das Pfingstfest vorüber. So schnell eilen die Stunden vorbei. Aber der Pfingsttag der Ausgießung des Geistes kennt keinen Abend, weil seine Sonne, der Heilige Geist, keinen Untergang kennt.

Amen.

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