Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Juli 2007

Das Gesetz Gottes im Menschen – das Gewissen

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Bei einem Streit in einem dunklen Raum wurde ein Mann erschlagen. Niemand der Beteiligten wollte den Mord begangen haben. Da fand der Richter einen Ausweg. Er ließ die Männer einzeln kommen und legte sein Ohr an die Brust eines jeden. Das Herz mehrerer der Verdächtigen schlug ruhig, nur das eines einzigen pochte stürmisch. Ernst sah der Richter dem Mann ins Gesicht und sagte zu ihm: „Du bist der Mörder.“ Der Mann brach zusammen und bekannte seine Tat.

In dieser Begebenheit liegt ein tiefer Sinn. Warum hämmerte das Herz des einen, des Schuldigen, so laut? Weil in seinem Herzen eine Stimme rief: Was hast du getan? Du magst dich verstellen, du magst heucheln, du magst lügen, der Frevler bist du doch. Und diese Stimme im Inneren nennen wir das Gewissen. Das Gewissen ist nichts anderes als das Gesetz Gottes, angewendet auf den einzelnen Fall. Wir kennen die Gesetze Gottes, und aus dieser Kenntnis entsteht das Bewusstsein, ob eine Handlung nach Gottes Willen erlaubt oder unerlaubt ist. Der Verstand macht uns aufmerksam auf das Gesetz und auf die Handlung, und er zieht die Schlussfolgerung: Weil Gott das gebietet, ist es Pflicht, ist es erlaubt; weil Gott es verbietet, ist es untersagt, ist es verboten. Das Gewissen ist eine Tätigkeit des Verstandes, aber sie wirkt auch auf den Willen, denn es treibt uns mächtig an, das Gute zu tun und das Böse zu meiden. Die Theologen nennen deswegen das Gewissen „die Stimme Gottes“. Allerdings ist diese Redeweise verfänglich, denn Gott spricht nicht unmittelbar, sondern mittelbar. Eben durch sein Gesetz und durch die Erkenntnis des Gesetzes zeigt er uns, was zu tun oder was zu lassen ist.

Es gibt manche falsche Vorstellungen vom Gewissen. Es gibt Menschen, die stellen das Gewissen gegen das Gesetz. Aber das Gewissen ist kein Gesetz. Das Gewissen macht uns das Gesetz kund. Das Gewissen ist, wenn ich so sprechen darf, kein Sender, sondern ein Empfänger, noch besser die Antenne, mit der wir aufnehmen, was von Gott ausgeht. Das Gewissen ist nun erstens ein Erzieher zur Heiligkeit und zweitens ein Richter unseres täglichen Lebens.

Das Gewissen ist ein Erzieher zur Heiligkeit. Denken wir an den verlorenen Sohn. Er hatte einen guten Vater, der ihn warnte. Doch der leichtfertige Jüngling hörte nicht auf den Rat und zog mit seinem Erbteil in die Fremde, wo ihm niemand Vorwürfe machen konnte. Das Gewissen ist ein Lichtfunke der Vernunft, vermöge dessen wir beurteilen, was wir im Einzelfall zu tun oder zu lassen haben. Es ist eine angezündete Fackel mitten in unserem Herzen, die ihr Licht verbreitet. Es ist auch ein Lehrmeister, der heilsame Ratschläge gibt. Wie schön sagt es Johann Wolfgang von Goethe: „Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich zeigt er an, was zu ergreifen sei und was zu fliehen.“ O wie schön, meine lieben Freunde. Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich zeigt er an, was zu ergreifen sei und was zu fliehen. Das Gewissen ist mit dem Menschsein gegeben. Es gibt keinen Menschen, der kein Gewissen hätte. Der heilige Paulus hat es im Römerbrief deutlich ausgesprochen: „Wenn die Heiden, die das Gesetz (also das alttestamentliche Gesetz) nicht haben, aus natürlichem Antrieb die Forderungen des Gesetzes erfüllen, so sind sie, die das Gesetz (das alttestamentliche Gesetz) nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass der Kern des Gesetzes in ihr Herz geschrieben ist. Ihr Gewissen bezeugt es ihnen und die Gedanken, die einander anklagen oder verteidigen.“ Besser kann es niemand sagen als Paulus im Römerbrief. Es gibt keinen Menschen ohne ein Gewissen. Alle Völker kennen das Gewissen.

Ein Missionar hat einmal berichtet, wie ein Indianer zu ihm gekommen ist und ihm erzählt hat, ein Weißer habe ihm Tabak geschenkt. In dem Tabak fand er Geld. Da sagte der Indianer zu dem Priester: „Die ganze Nacht hat der böse und der gute Mensch in mir gezankt. Jetzt aber hat der gute gesiegt, und ich bringe das Geld zurück.“

Das Gewissen ist ein Keim, eine Anlage. Es muss gebildet werden so wie der Verstand und wie der Wille. Auch das Gewissen muss reifen, muss ausgebildet werden. Es bedarf der Entfaltung. Wir müssen also lernen, Gottes Willen zu erkennen, und wir müssen auch lernen, den Willen Gottes auf die konkrete Situation anzuwenden. Beides ist notwendig: das Gesetz Gottes kennen und die Fähigkeit besitzen, im gegebenen Falle die Schlußfolgerung für unser Handeln zu ziehen. Leider Gottes gibt es nicht wenige Menschen, die das Gewissen durch weltliche Grundsätze zu entkräften suchen. Damit das Gewissen recht gebildet wird, damit es wirklich sich von Gottes Willen leiten lässt, hat Gott eine Einrichtung getroffen, die das Gesetz Gottes vorstellt. Wir nennen sie katholische Kirche. Sie lehrt uns den Willen Gottes kennen. Freilich können auch da Fehler passieren. Ich habe vor mir, meine lieben Freunde, die Ausgabe der so genannten „Würzburger Synode“. Diese Würzburger Synode, die von den deutschen Bischöfen veranstaltet wurde, hat Beschlüsse verabschiedet. In einem dieser Beschlüsse heißt es: „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein katholischer Christ, seinem persönlichen Gewissensspruch folgend, in seiner besonderen Lage Gründe zu erkennen glaubt, die ihm seine Teilnahme am evangelischen Abendmahl innerlich notwendig erscheinen lassen.“ „Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass ein katholischer Christ, seinem persönlichen Gewissensspruch folgend, in seiner besonderen Lage Gründe zu erkennen glaubt, die ihm seine Teilnahme am evangelischen Abendmahl innerlich notwendig erscheinen lassen.“ Das ist ein ganz fataler und ein total falscher Beschluß. Denn ein solches Gewissen, das hier vorgestellt wird, ist ein irriges Gewissen, und es wäre die Aufgabe der Bischöfe, dieses irrige Gewissen zu berichtigen. Dazu sind sie zusammengekommen, nicht um anderen zu bösem Tun ein gutes Gewissen zu machen. Und dieser Beschluß hat Folgen gehabt. Auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover nahm Herr Kohl, seinerzeit Bundeskanzler, das evangelische Abendmahl und berief sich auf die Würzburger Synode.

Wer das Gewissen nach persönlichen Begierden, Wünschen, Vorteilen bildet, der erzieht sich ein falsches Gewissen. Und auch das falsche Gewissen enthebt nicht der Schuld. Die Schuld liegt dann eben vorher, nämlich bei der Bildung dieses falschen Gewissens, nicht unmittelbar bei der Tat, die er mit falschem Gewissen dann guten Gewissens tut. Nein, wir müssen das Gewissen bilden durch Lehre, durch Predigt, durch Lesungen. Wir müssen auf das Wort Gottes, vorgetragen durch seine Stellvertreter auf Erden, hören und uns danach richten. Selig derjenige, der wie der heilige Paulus sprechen kann: „Bis auf den heutigen Tag bin ich mit durchaus gutem Gewissen vor Gott gewandelt.“ Das Gewissen kann auch nicht sterben. Es kann höchstens einem Scheintod verfallen, aber sterben kann es nicht. Das schlimmste und schändlichste Gummifabrikat unserer Zeit ist das Gummigewissen, das immer nach seinem eigenen Belieben das Urteil zu bilden bemüht ist. Nein, das Gewissen ist ein Erzieher zur Heiligkeit.

Es ist zweitens ein Richter unseres täglichen Lebens. Je nachdem, ob das Gewissen frei spricht oder lobt oder anklagt oder tadelt, je nachdem wird es zum lohnenden oder zum strafenden Richter. Das Gewissen ist ein lohnender Richter, wenn wir das Gute, wenn wir das Rechte, wenn wir das, was Gott will, getan haben. Das gute Gewissen beglückt. „Es gibt keine süßere, keine angenehmere Erinnerung als das Bewusstsein guter Taten“, schreibt der Heide Cicero. Trefflich sagt der Volksmund: „Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen.“ Und in dem Buch von der Nachfolge Christi steht das schöne Wort: „Habe ein gutes Gewissen, und du wirst immer Freude haben. Ein gutes Gewissen kann viel ertragen und selbst im Missgeschick heiter sein. Sanft wirst du ruhen, wenn dein Herz dich nicht anklagt. Zufriedenheit und Genügsamkeit sind der Anteil eines Menschen, der ein gutes Gewissen hat.“ Wahrhaftig, glücklich ist der Mensch, den sein Gewissen nicht anklagt. Was tröstete den Dulder Job in seinem Elend und in seinem Unglück? Das gute Gewissen. Was tröstete Petrus, als er im Kerker war? Das gute Gewissen. Dagegen, sobald Böses geschehen ist, versieht das Gewissen statt des Amtes eines lohnenden Richters das Amt eines strafenden Richters. Der geheime Richterstuhl im Herzen meldet sich. Ein menschlicher Richter lässt sich manchmal bestechen oder urteilt falsch, aber das recht gebildete Gewissen urteilt immer richtig, lässt sich weder verbergen noch zum Schweigen bringen. So ist das böse Gewissen ein großer Quäler. Es lässt dem Täter keine Ruhe. Es ist ein nagender Wurm, der nicht stirbt, wie die Heilige Schrift sagt, ein nagender Wurm, der nicht stirbt. Vom Gewissen gefoltert versteckten sich die Stammeltern vor Gott. Vom Gewissen gefoltert irrte Kain nach dem Brudermord umher. Vom Gewissen gefoltert nahm Judas einen Strick und erhängte sich. Der Gottlose flieht, obwohl ihn niemand verfolgt. Unter allen Trübsalen gibt es kein größeres Leid als das eines bösen Gewissens. Es lässt dem Menschen keine Ruhe. Sie kennen alle aus der Geschichte den König Theoderich von Italien, der in Ravenna seine Residenz hatte. Theoderich war ein grausamer Herrscher. Als man ihm eines Tages zum Mahle einen Fisch auf den Tisch brachte, da wurde er vor Schrecken fast ohnmächtig. Warum? Weil er in seiner Unruhe in dem Fisch das Haupt seines ermordeten Gegners Symmachus zu erkennen glaubte. Ähnlich ging es dem König Heinrich VIII. von England. Auf seinem Sterbebett meinte er, die Umstehenden wären lauter Mönche, nämlich diejenigen Mönche, die er hatte grausam ermorden lassen. Das böse Gewissen ist ein großer Quäler. Es ist auch ein heimlicher Quäler; denn gegen das Gewissen ist jede Auflehnung Ohnmacht, jede Verteidigung Anklage, jede Empörung Niederlage. Während der Mensch lacht, blutet sein Herz. Das Gewissen ist eine unsichtbare Macht, die ihn ergreift, und flöhe er ins weiteste Land, eine unbezwingbare Allgewalt lässt ihm keine Ruhe. Es ist ein beständiger Quäler. Es wird erst dann still werden, wenn er sich von der Last seiner Schuld befreit hat.

Ein Künstler hat einmal das böse Gewissen mit einem Pferd verglichen, das von Hornissen verfolgt wird. Es rast dahin, aber die Hornissen lassen nicht von ihm ab. Das Rennen ist umsonst. Der Mensch, den sein Gewissen quält, mag fliehen, so hastig er kann, er mag sich verbergen, wo immer er will, den Gewissensbissen entkommt er nicht.

Und so sollen wir, meine lieben Freunde, gewissenhafte Menschen werden. Ich bin manchmal ganz berührt und beschämt, wenn ich im Beichtstuhl Menschen erlebe, die viele, viele Taten aufzählen, die sie wirklich oder angeblich begangen haben. Ich bin überzeugt, dass ihr so zartes Gewissen sie zu dieser großen und großartigen Gewissenserforschung treibt. Ja, wir sollen ein zartes Gewissen haben, das auch bei geringen Anschlägen des Bösen sich meldet. Wir wollen Gewissenserforschung betreiben, jeden Abend das Gewissen erforschen und vor jeder Beichte gründlich das Gewissen erforschen, damit wir Reue erwecken und unsere Sünden aufrichtig bekennen können. Ja, so wollen wir sagen: Herr, du hast den Schlüssel zu meinem Herzen. Schließ es auf, damit ich dein Gesetz verstehe. Lehre mich auf dem Wege deiner Gebote zu wandeln.

Amen.

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