Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
22. Oktober 1995

Die Ordnung der menschlichen Phantasie

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Die äußeren Sinne tragen uns Wahrnehmungen in das Innere. Was die Sinne aufnehmen, schafft die Seele um zu Anschauungen und Vorstellungen, die in unserer Seele haften bleiben. So gewinnen die äußeren Dinge eine Existenz in unserem Inneren. Das Gedächtnis ist wie ein Speicher, in dem die vielen Eindrücke, die die Sinne uns vermittelt haben, aufbewahrt werdem. Diese Vorstellungen werden von Zeit zu Zeit wie von selbst in uns wieder lebendig; wir vermögen sie auch mit dem Willen zu neuem Leben zu erwecken. Wir erinnern uns an vergangene Dinge. Wir rufen die Vorstellungen wieder vor unseren geistigen Horizont. So haben wir also eine gewaltige Schatzkammer des Erlebten, Erfahrenen, Gehörten, Gefühlten in unserer Seele. Auch wie wir zu bestimmten Gelegenheiten waren, was wir getan oder gelassen, mit welchen Gesinnungen wir es getan oder gelassen haben, ist aufbewahrt in unserem Gedächtnis.

Mit diesem riesenhaften Stoff treibt nun die Phantasie ihr Spiel. Sie erweckt diese Sinnesbilder, sei es unversehrt, so wie sie waren, sei es verkürzt, um bestimmte Einzelheiten vermindert. Sie kombiniert sie und bildet ein neues, einheitliches Ganzes daraus. Wegen der engen Verknüpfung zwischen leiblichem und geistigem Leben wird die Phantasie auch beeinflußt von unseren Leidenschaften, Antrieben, Gefühlen, Strebungen. Was den Sinnen schmeichelt, das malt die Phantasie günstig, mit schillernden Farben aus, und was den Leidenschaften schmerzt, das malt sie schwarz in schwarz. Ja, die Phantasie vermag auch die Leidenschaften zu nähren. Sie vermag sie gleichsam aufzuputschen und zu fördern. Ein Kummer, ein Schmerz, das Gefühl der Rache kann durch die Phantasie immer mehr genährt und gesteigert werden, so daß der Affekt, die leidenschaftliche Erregung in uns hochkommt. Andererseits vermag die Phantasie uns auch gute, heilige und schöne Bilder vor die Seele zu stellen, die uns fördern und geistlich voranbringen. Das Beispiel der Heiligen, das Denken an unseren Herrn und Heiland, die Erinnerungen an erhabene geistliche Erlebnisse vermögen uns zu erheben und zu reinigen.

Die Vorstellungen, die in unserer Seele durch die Phantasie wachgerufen werden, können dreifach unserer Seele gefährlich werden. Einmal kann das nutzlose und sinnlose Umherschweifen der Phantasie uns schaden, auch wenn die Gedanken selbst nicht gefährlich sind. Wir verlieren Zeit, wir vergeuden unsere kostbare Zeit, wir hemmen unsere Arbeit, wir mindern unsere Leistung und wir vertändeln, was wir nützlich hätten verbringen sollen. Auch die Andacht wird ja, wie wir alle wissen, durch Phantasien gestört, manchmal sogar zerstört, der Aufschwung zu Gott wird gehemmt, die Freude an Gott gemindert, der Nutzen des Gebetes geschmälert. Noch gefährlicher ist es, wenn die Phantasie im Dienste der Leidenschaft steht, etwa im Dienste des Hasses. Wenn ein Gegenstand des Hasses in unserer Seele auftaucht, dann vermag die Phantasie ihn zu vergröbern. Sie sieht dann bei dem betreffenden Menschen nur noch die negativen Eigenschaften und vergißt das Gute, das er auch an sich hat. „Der Haß macht blind“, sagt der Volksmund, und das ist wahr. Die Phantasie unterschlägt das Gute, das an dem andere ist, und übertreibt das Böse, das er in sich trägt. Auch die Phantasie der Liebe vermag die Wirklichkeit zu verzeichnen. „Die Liebe macht blind“, sagt wiederum der Volksmund, und auch das ist wahr; denn sie übersieht die Schwächen und Fehler des Geliebten und fälscht sie um in Vorzüge, und auf diese Weise entsteht ein falsches Bild vom Nächsten in uns.

Ganz gefährlich ist die Phantasie vor allem, wenn sie die Unlauterkeit in uns zu erwecken sucht, also die Unkeuschheit, die Unzucht. Denn sie malt diese Möglichkeiten, diese Reize, diese Begebnisse in einem glänzenden Lichte, sie betrügt den Menschen um die Wirklichkeit dessen, was mit diesen geschlechtlichen Dingen an Leid, Kummer und Schaden verbunden ist, und so wird leicht die unlautere Phantasie zu einer Tyrannin, zu einer Tyrannin, die die Kräfte des Menschen, Verstand und Willen, in ihren schrecklichen Dienst nimmt und einen Ekel gegen die Reinheit, gegen die Unschuld, gegen die Keuschheit erzeugt.

Diese drei Gefahren der Phantasie müssen wir nach Möglichkeit abzuwenden versuchen. Wie macht man das? Nun, an erster Stelle muß man wachen über das, was wir in unsere Seele einlassen. Das Gedächtnis bewahrt nur das auf, was die Sinne aufgenommen haben, also muß man ansetzen bei den Sinnen. Man muß die Sinne in die Gewalt bekommen, damit sie die Seele nicht mit unschönen, häßlichen, gefährlichen, schädlichen Bildern füllt. Wenn wir die Erinnerungen vermeiden wollen, müssen wir die Sinneseindrücke vermeiden. Das heißt eben Hygiene des Sehens, Hygiene des Hörens. Das bedeutet, daß wir die Literatur, die wir lesen, sorgfältig auswählen müssen, daß wir die Fernsehsendungen, die wir uns anschauen, vor unserem gut gebildetetn Gewissen verantworten müssen. Hier ist eine gefährliche Einbruchstelle des Bösen, und man darf sich nicht wundern, wenn diese Eindrücke ihr Spiel treiben, nachdem man sie erst einmal in die Seele eingelassen hat. Hier liegt der erste Fehler, den wir gemacht haben. Wir müssen also eine Wache vor unsere Sinne setzen, damit wir nicht schädliche und gefährliche Bilder in die Seele einlassen.

Zweitens, wir dürfen gefährliche und schädliche Vorstellungen nicht willkürlich hervorrufen. Wir haben es gleichsam in unserer Macht, wie gefährlich und schädlich diese Bilder werden, indem wir eben nicht daran denken. Durch willkürliches Auffrischen der Erinnerungen werden diese Bilder immer wieder neu in uns geweckt und bringen dann ihre verhängnisvolle Wirkung hervor. Wenn wir sie dagegen zu vergessen suchen, wenn wir sie nicht mehr auffrischen, dann verlieren sie ihre Kraft, sie werden blaß und verschwinden allmählich ganz aus dem Gedächtnis. Die Vergegenwärtigung dagegen verleiht den Bildern Kraft, verkehrte Neigungen zu erwecken. Aus den verkehrten Neigungen entsteht das Verlangen. Das Verlangen verfinstert den Verstand und den Willen und führt zur bösen Tat. Also im Inneren unserer Seele Ordnung halten! Was wir in die Erinnerung rufen, das muß vor unserem gut gebildeten Gewissen Bestand haben, und wir sollen uns hüten, durch Erinnerung an häßliche Dinge das Böse, das in unserer Seele auf der Lauer liegt, zu fördern.

Und schließlich noch ein Drittes, nämlich wenn diese Gedanken von selbst kommen, müssen wir uns von ihnen abwenden. Sie kommen von selbst. Jedermann weiß das, daß in ihm ungewollt Bilder erscheinen, die ihn mit Schrecken erfüllen. Der heilige Augustinus klagt in seinen „Bekenntnissen“ darüber, wie er diesen „Zunder“, diesen Zunder der Sünde in seiner Seele spürt. Und auch wir wissen, daß uns solche Erinnerungen, Vorstellungen, Anschauungen heimsuchen. Wir müssen mit Geduld und Festigkeit die von selbst sich einstellenden gefährlichen und schädlichen Bilder aus der Seele entfernen; mit Geduld und Festigkeit. Denn wir wissen, das ist nicht von heute auf morgen zu schaffen, und wir wissen, sie kommen immer wieder. Man muß einen entschiedenen Willen haben und darf nicht nur mit halber Kraft diese Bilder abzuwehren versuchen. Aber das alles, diese Wachsamkeit und diese Entschiedenheit, muß ergänzt werden durch etwas Positives, nämlich daß wir unsere Seele mit gutem, heiligem Erinnerungsstoff füllen. Wir müssen uns also gute, lehrreiche Bilder aneignen. Ja, buchstäblich Bilder, z.B. Bildbände von Thüringen oder von Bayern, wo wunderschöne Landschaften, herrliche Kulturdenkmäler abgebildet sind. Und auch Bilder im übertragenen Sinn. Wir müssen die Lektüre so wählen, daß Gutes und Heiliges in uns einkehrt und aufbewahrt wird. Wir müssen uns ernsthaft geistig beschäftigen. Nur keine Trägheit im Geistigen! Man muß sich mit wissenschaftlichen Problemen auseinandersetzen; die Tageszeitungen bieten da manche Anregung für diese Beschäftigung. Wir müssen vor allen Dingen das Leben unseres Heilandes betrachten, indem wir die Heilige Schrift lesen, indem wir den Kreuzweg gehen. Wir müssen uns das Leben der Heiligen vor Augen führen. Da haben wir die Wegweiser, denen wir folgen müssen, wenn wir uns mit den Personen beschäftigen, deren Name mit S beginnt, wie St. Paulus, St. Theresia, St. Martinus, St. Eustachius. Mit diesen Heiligen, mit diesen Personen müssen wir uns beschäftigen und auf diese Weise Anschauungen gewinnen, die wir in unserem Inneren aufbewahren und die wir jederzeit hervorrufen können, um uns daran zu erbauen und aufzurichten.

Die Psalmen erinnern immer wieder daran, daß wir mit reinem Herzen Gott dienen sollen. „Wer darf besteigen den Berg des Herrn? Wer darf stehen am heiligen Ort?“ heißt es im Psalm 23. Die Antwort: „Wer reine Hände hat und reinen Herzens ist.“ Und im 50. Psalm fleht der Beter: „Ein reines Herz erschaffe mir, o Herr, den rechten Geist erneu' in meinem Innern!“ Jawohl, so ist es und so lehrt uns auch die Kirche beten in dem Gebet, das wir immer bei der Allerheiligenlitanei beten: „Durchglühe mir Herz und Nieren mit dem Feuer des Heiligen Geistes, damit ich keuschen Leibes und reinen Herzens dir diene, mein Gott!“

Amen.

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