30. Januar 2011
Bereit sein für das Gnadenwirken Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Gott wirkt das Wollen und das Vollbringen. Das ist die Lehre der Heiligen Schrift, der Apostel und der ganzen Überlieferung. Zur Verwirklichung, zur Erfüllung unserer sittlichen Lebensaufgabe benötigen wir die göttliche Gnadenhilfe. Wir müssen unterscheiden zwischen der Einwirkung Gottes in natürlicher Weise und in übernatürlicher Weise. In natürlicher Weise wirkt Gott auf alles Geschaffene mit dem sogenannten „concursus divinus“ – mit der göttlichen Mitwirkung oder mit dem göttlichen Zusammenwirken. Gott hat ja die Welt geschaffen, und er erhält sie im Dasein. Wenn er seine Kraft zurückziehen würde, würde die Welt ins Nichts zurücksinken. Die Welt hat nur Bestand, weil Gott sie fortdauernd erhält und mit allem, was ist, wirkt, so dass es seinen Bestand hat. Was der Schöpfer mit seiner Allmacht ins Dasein gerufen hat, das würde ins Nichts zurücksinken, wenn die gleiche Kraft nicht weiterwirken würde, um das, was anfänglich geschaffen wurde, im Dasein zu erhalten. Gott schuf nicht also und ging weg, wie die Deisten meinten im 18. Jahrhundert. Nein, was von ihm stammt, das bleibt in ihm und durch ihn. Die Allmacht wird nicht müde. Gott wirkt in jedem Akt der Geschöpfe unmittelbar mit kraft des concursus divinus oder concursus generalis oder concursus universalis, die Theologie hat verschiedene Bezeichnungen für dieselbe Sache gewählt.
Über den allgemeinen Konkurs, über die allgemeine Mitwirkung hinaus geht die besondere Anregung und Kräftigung zu sittlich guten Handlungen. Wir können sittlich Gutes nur wirken, wenn Gott mit uns wirkt. Die menschliche Kraft kommt von Gott, und weil Gott mitwirkt, wird nicht etwa die menschliche Freiheit vernichtet, sondern Gott schafft die menschliche Freiheit. Er wirkt die Freiheit, dass wir in Freiheit das Gute tun können.
Von dieser natürlichen Mitwirkung verschieden ist die gnadenhafte Wirkung, ist die Gnadenhilfe Gottes, also die freie Huld und Gnade und Gabe, die Gott uns schenkt, damit wir das Gute tun können. Zuerst natürlich die heilende Gnade, die den Sünder zum Gerechten macht. Wir haben ja an den vergangenen Sonntagen von der Rechtfertigung gesprochen, und sie ist das Werk der heilenden Gnade Gottes. Sie gibt uns die Hilfe, die notwendig ist, um aus einem Sünder zu einem Gerechten zu werden. Sie ist eine stärkende Arznei, und gleichzeitig mit der Nachlassung der Sünde erhebt sie uns in einen höheren Stand, in den Stand der heiligmachenden Gnade. Die heilende Gnade wird zur erhebenden Gnade im Gnadenstand der heiligmachenden Gnade.
Diese Wirklichkeit, meine lieben Freunde, hat uns Gott verdient durch das Erlösungswerk Jesu Christi. Wir wissen, dass die Stammeltern die Gnade besessen, aber verloren haben. Sie lebten im Zustand der Gottesfreundschaft. Alle ihre Kräfte, die körperlichen und die geistigen, waren harmonisch vereinigt. Es gab keinen Zwiespalt zwischen Wollen und Vollbringen. Aber dann kam die Ursünde, und die Ursünde hat die Stammeltern der übernatürlichen Lebensgemeinschaft mit Gott beraubt. Sie haben das Glück der heiligmachenden Gnade für sich und für ihre Nachkommen verloren. Das höhere Leben mit seinen Kräften erstarb. Die Folge war die Zerstörung der Harmonie, die bis dahin im Menschen zwischen Geist und Leib geherrscht hatte. „Welch ein Glück, welch eine Seligkeit, welche Gnade hast du, Adam verscherzt“, ruft einmal der heilige Ambrosius aus, „dass du dich in ein solches Elend gestürzt hast!“
Aus der Ursünde ergab sich die Erbsünde. Nach einem geheimnisvollen Ratschluß Gottes sollten die Menschen die Sünde Adams erben, sollten sie in den Zustand der Nichtbegnadigung hineingeboren werden, und die gefallene Menschheit hat sich dann auch in dieser Sünde entsprechend verirrt. Eine Flut persönlicher Sünden kam zur Erbsünde hinzu, zu der erblichen Belastung. Die Erbsünde ist ein Geheimnis, und sie ist vielleicht auch schwer zu verstehen. Aber kein Geringerer als der große französische Philosoph und Mathematiker Blaise Pascal hat einmal den Satz geprägt: „Ich für meine Person muss gestehen: Sobald die christliche Religion mir die Lehre vom Sündenfall erklärte, gingen mir die Augen auf, und ich sah überall die Merkmale dieser Wahrheit; denn die ganze Welt predigt von einem verlorenen Gott und von einer gefallenen Natur.“ Die ganze Welt predigt von einem verlorenen Gott und von einer gefallenen Natur. Die Erbsünde besteht im Wesentlichen darin, dass der Mensch der übernatürlichen Gnade verlustig gegangen ist, dass ihm die Heiligkeit, die ihm ursprünglich zugestanden hätte, verloren wurde. Die Folgen der Erbsünde sind die Neigung zum Bösen, die böse Begierlichkeit, die uns, wie das Konzil von Trient sagt, zum Kampfe – zum Kampfe! – belassen ist.
Christus hat die Gnade durch sein Leben und Leiden wiedererlangt. Das ganze Leben. meine Freunde, das ganze Leben Jesu ist von erlöserischer Qualität. Also Christus hat uns erlöst durch seine Ankunft, durch seine Geburt, durch sein ganzes göttliches Leben, durch seine Lehre, durch sein Beispiel. Alles besitzt erlöserische Kraft. Aber freilich, der Gipfel dieser Erlösung wurde erstiegen am Kreuze. Durch die freiwillige Hingabe seines Lebens zur Tilgung der Sünden hat uns Christus die Fülle des übernatürlichen Lebens beschafft. Von ihm, von seiner Person geht die erlösende Gnade aus. Er ist ja der zweite Stammvater, der zweite Adam, und er vertritt das ganze Menschengeschlecht. Als Gottessohn trägt er in sich eine unendliche Würde und Heiligkeit, und so kann er durch seine gottmenschliche Tat die Sühne leisten, die wir Menschen brauchen. Er kann uns zur gnadenhaften Gotteskindschaft erheben. Freilich, der Einzelne muss zu diesem Erlöser finden; er muss Anschluß an Christus gewinnen; er muss eingegliedert werden in seinen mystischen Leib, die Kirche. Das geschieht durch die Rechtfertigung des Sünders, die durch aktuelle Gnaden vorbereitet und durch die heiligmachende Gnade vollendet wird.
So wird das Reich der Übernatur hergestellt, wiederhergestellt, das Reich Gottes aufgebaut, wiederaufgebaut. Die Apostel werden nicht müde, in immer neuen Wendungen diese unglaubliche Heilstat Gottes zu schildern. „In Christus besitzen wir die Erlösung durch sein Blut“, heißt es im Epheserbrief. „Er hat sich als Lösegeld für alle hingegeben. Durch den Tod seines Sohnes wurden wir mit Gott versöhnt. Das Blut seines Sohnes macht uns von allen Sünden rein“, so heißt es im Römerbrief. Und das schönste Wort, meine ich, steht im Galaterbrief: „Christus hat mich geliebt und sich für mich geopfert.“ Christus hat mich geliebt und sich für mich geopfert.
Gnade ist mehr als Schöpfung. Die Schöpfung brachte uns auf diese Erde, die Gnade soll uns in die ewige Welt Gottes bringen. Wir sind durch die Gnade mystisch mit Gott vereint. Wir haben also eine Beziehung zu Gott, die über alle sonstigen, irdischen Wirkungen hinausgeht. Die Seele ist unmittelbar mit Gott vereint. Das göttliche Leben ist uns mitgeteilt, die göttlichen Gnadenkräfte sind uns eingesenkt. Es ist schwer zu beschreiben, was diese Wiedergeburt, was diese Kindschaft Gottes bedeutet, eine innere Wandlung, eine innere Einpflanzung in den mystischen Leib des Herrn, das ist es. Und sie vollzieht sich in der sakramentalen Welt durch die Sakramente. Die Sakramente bringen uns in diese Verbindung mit Christus. In den Sakramenten wird das übernatürliche Leben der Seele begründet und gefördert.
Das ist sehr leicht zu verstehen, denn die Sakramente sind ja nur eine Auswirkung des Ursakramentes Christus. Er mit seinem Leib und mit seiner Seele, er mit seinem Wirken und mit seinem Leiden, er ist das Ursakrament. Und die Sakramente, die wir kennen, die wir empfangen, sind gewissermaßen Emanationen, Ausströmungen aus diesem Ursakrament Jesus Christus. Es gibt Menschen, die behaupten, die Sakramente seien Magie, das sakramentale Leben sei magisch. Was ist denn magisch? Magisch sind Vorgänge, bei denen man eine höhere Wirkung von einer niederen Ursache erwartet. Magisch ist auch, wenn man meint, durch menschliche Einwirkung Gott zwingen zu können. Das ist bei den Sakramenten überhaupt nicht der Fall. Die Sakramente geschehen in freier Huld Gottes. Sie sind in seiner Gnadenordnung beschlossen, und es ist in keiner Weise möglich, Gott zu zwingen. Wenn sie mit Sicherheit wirken, dann aufgrund der Zusage Gottes. Gott ist es, der in den Sakramenten allein die Gnadenwirkung erzeugt. Die Menschen freilich müssen sich dazu bereiten; sie müssen in der Gnade, noch einmal in der Gnade sich dazu vorbereiten, disponieren, wie der Ausdruck heißt. Aber mit Sicherheit geschehen die Wirkungen, die Gott uns zugesagt hat, aus freier Huld, freilich mit der Zuverlässigkeit, wie sie Gott eigen ist.
Meine lieben Freunde, der Mensch braucht Gott, um Mensch zu bleiben und nicht zum Unmenschen zu entarten. Er wird nur Vollmensch, der im Natürlichen und im Übernatürlichen beheimatet ist, durch Gottes Wirken. Uns rettet nur eines: die Gnade unseres Erlösers, unseres Herrn und Gottes. Es ist eine Bekehrung unmöglich ohne seine anregende und helfende Gnade. Am Weihnachtstag des Jahres 1886 begab sich ein junger Franzose, Paul Claudel, in die Kirche Sacré Coeur auf dem Montmartre in Paris. Paul Claudel war völlig ungläubig. Er war Schriftsteller, und er suchte Stoff für irgendeinen Roman oder ein Essay, den er schreiben wollte. Er betrat aus reiner Neugierde die Kirche Sacré Coeur. Er wurde von der Menge hin und her gestoßen, er ging nach Hause. Am Nachmittag fand er sich wieder ein zur Vesper. Weißgekleidete Mädchen sangen. Eben wollten sie mit dem Magnificat beginnen. „Und da geschah etwas“, so schreibt er, „gänzlich unerwartet, das über mein ganzes weiteres Leben entschied. Es war, wie wenn jemand mein Herz plötzlich angerührt hätte, und von diesem Augenblick an war ich bekehrt, ein gläubiger Christ.“ Seinem Glauben wohnte von nun an eine solche Kraft inne, dass er ihn nie mehr in seinem bewegten Leben verloren hat. Er war so glücklich, dass er diesen Glauben gefunden hatte, und dieses Glück hat ihn das ganze Leben nicht verlassen. So ist er der große, vielleicht der größte katholische Dichter Frankreichs geworden. Die Gnade hat ihn überwältigt, die siegreiche Gnade, die wirksame Gnade, die gratia victrix, wie die Theologie sagt. Sie hat ihn überwunden.
Niemand ist imstande, das Gute, das er will, zu tun und das Böse, das er nicht will, zu unterlassen außer durch Christi Gnade. Nichts Gutes, das zur Frömmigkeit und zur Gerechtigkeit gehört, kann ohne die Gnade Gottes geschehen. Unsere Aufgabe ist es, der Gnade würdig zu werden, dem gnädigen Gott, dem Gnadenspender uns zu öffnen, die Anregungen der Gnade zu verspüren und ihnen zu folgen. Es gibt eine schöne Anrufung in einer Litanei, und die lautet: „Von der Vernachlässigung deiner Einsprechungen, o Herr, erlöse mich.“ Von der Vernachlässigung deiner Einsprechungen, o Herr, erlöse mich. Gott nötigt niemanden. Auch wenn er ruft, läßt er dem Menschen die freie Entscheidung. Aber wenn wir träge sind, vermag niemand uns mit seinem Gebet zu helfen. Das Reich Gottes wird nicht den Schlafenden zuteil, sondern denen, die wachen und arbeiten.
Amen.