15. August 1992
Aufgenommen mit Leib und Seele
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Als am 1. November 1950 der Heilige Vater Pius XII. von der Loggia der Peterskirche der katholischen Welt das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verkündete, da gab es Christen, katholische Christen, die meinten, wie könne man etwas so lange Zurückliegendes, etwas so Nebensächliches wie die Aufnahme Mariens in den Himmel zum heiligen Glaubenssatz erklären in einer Zeit, die von Erschütterungen größten Ausmaßes erfüllt sei, in einer Zeit, in der die letzten Werte aus den Fundamenten zu geraten drohten.
Die Meinung, es handle sich bei diesem Glaubenssatz um etwas Nebensächliches, ist falsch, denn das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel hat es mit dem Leib zu tun, und der Leib ist nichts Nebensächliches, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Menschen hier auf Erden. Das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel ist der Zeit nahe, denn in unserer Zeit ist der Leib von zwei Gefahren bedroht, nämlich von der Unterschätzung und von der Überschätzung. Die Unterschätzung des Leibes zeigt sich Tag für Tag in der Vernichtung von Leben. Wir hören, daß Völker sich im Bürgerkrieg zerfleischen. Statt die Not und das Elend der Trockenheit zu bekämpfen, werden in Somalia Menschen umgebracht, der eine Stamm wütet gegen den anderen. Statt sich dem Aufbau des Landes zu widmen, werden Städte in Jugoslawien mit Artilleriefeuer und Bombenangriffen vernichtet. Jeden Tag müssen Menschen, ungeborene Menschen, in großer Zahl einen grausamen Vernichtungstod über sich ergehen lassen. Das ist die Unterschätzung des Leibes, die sich in diesen grauenhaften Vorgängen kundtut. Und gegen diese Unterschätzung des Leibes erhebt das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens Einspruch. Es sagt, der menschliche Leib ist ein großer Wert. Der menschliche Leib kann auf Erden zertrümmert, zersägt, vernichtet werden, er wird einmal zu ewigem Leben auferweckt werden, und die Menschen, die Gott treu gewesen sind, werden in ihrem Leibe einmal in der ewigen Seligkeit leben und Gott verherrlichen. Maria ist nur die erste, die zu dieser Verherrlichung vorangegangen ist. Aber sie wird nicht die einzige bleiben, sondern alle, die es von Gott wert gefunden werden, werden einmal mit ihrem Leibe ihre Herrlichkeit teilen.
Das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel verurteilt aber auch die Überbewertung des Leibes. „Leib bin ich ganz und gar, und die Seele ist nur ein Stück an meinem Leibe“, hat einmal Friedrich Nietzsche ausgegeben. Diese Parole ist wahrlich aufgenommen worden. Die Überbewertung des Leibes zeigt sich vor allem in den ausgesuchten Genüssen, welche viele Menschen ihrem Leibe zuzuführen bestrebt sind. Die Überbewertung des Leibes tut sich aber auch kund im sexuellen Mißbrauch des Leibes. Die Welt, die Presse, die Filme, die Massenmedien sind voll von Sexualisierung, und da wird der Leib in einer Weise überbewertet und überschätzt, daß die Seele Schaden leiden muß.
Gegen diese Überbewertung des Leibes erhebt das Dogma Einspruch, indem es lehrt: Wir müssen auf Erden unseren Leib züchtigen und in Gewalt bringen. Wir müssen den Kreuzweg des Lebens gehen, ja wir müssen das Fleisch mit seinen Genüssen ans Kreuz schlagen, wenn unser Leib einmal in glänzender Verherrlichung mit Maria die Seligkeit des Himmels teilen will. Wir müssen Augenlust, Fleischeslust und Hoffart des Lebens besiegen, wenn wir einmal in die Herrlichkeit der ewigen Seligkeit eingehen wollen.
Es gab, als das Dogma von der leiblichen Aufnahme Mariens verkündet wurde, Stimmen von nichtkatholischer Seite, daß dieser Lehrsatz nicht in der Heiligen Schrift begründet sei. Diese Meinung ist falsch. Die Heilige Schrift ist nicht, wie die Bibelchristen meinen, die einzige Glaubensquelle, in der alle Glaubenssätze expresse – ausdrücklich und explizit- ausgefaltet vorhanden sind, sondern die Heilige Schrift ist jenes Buch, in dem das Gesamt der Offenbarung enthalten ist, das sich aber erst nach und nach dem prüfenden Blick der Kirche, dem Glaubensverständnis der Glieder der Kirche eröffnet. „Die Kirche schöpft ihr Wissen um die Offenbarung nicht allein aus der Schrift“, hat das Zweite Vatikanische Konzil im Einklang mit der gesamten Kirchentradition erklärt. Es gibt eine zweite Glaubensquelle, das ist die Überlieferung, und die Überlieferung erklärt die Schrift, und sie ergänzt sie. Es gibt in der Heiligen Schrift Ansätze durch die Glaubenslehre, etwa wenn Maria ausruft: „Selig werden mich preisen alle Geschlechter.“ Ja warum? Weil sie den Erlöser geboren hat, weil sie die Mutter des Erlösers war und weil der Erlöser sie in seine Herrlichkeit aufgenommen hat. Diese letztere Wahrheit ist der Kirche immer mehr aufgegangen, bis im Jahre 1950 der Heilige Vater mit untrüglicher Gewißheit den Glaubenssatz verkünden konnte: „Maria ist nach Vollendung ihres irdischen Lebenslaufes mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden.“ Der Glaubenssinn des katholischen Volkes hat erkannt, daß der Leib, der den Erlöser geboren hat, nicht der Verwesung überlassen werden konnte. Der Glaubenssinn des katholischen Volkes hat erkannt, daß das Mutterherz, das auf Erden für uns geschlagen hat, nicht in der Ewigkeit aufhören konnte, für uns zu schlagen.
Es ist eine Frau , der diese Ehre zuteil geworden ist, als einzige der Erlösten mit dem Erlöser in himmlischer Freude, in vollendeter Gestalt des Leibes und der Seele sich zu freuen. Eine Frau ist es, und das ist bedeutsam. Von den Frauen hängt in tiefer Weise das Schicksal eines jeden Volkes ab. Die weise Dichterin Gertrud von Le Fort hat einmal geschrieben: „Die Frau ist das Schicksal eines jeden Volkes. Wenn der Mann fällt, wird Gott den Mann strafen. Wenn aber die Frau fällt, dann wird Gott das ganze Volk strafen.“ Diese Rolle der Frau ergibt sich aus ihrer mütterlichen Funktion. Von den Frauen, von den Müttern lebt das Volk. Ein Kind ist mit seiner Mutter viel mehr und viel inniger und viel tiefer verbunden als mit seinem Vater. Offenbar war es diese Rolle der Frau, die Gott veranlaßt hat, die Mutter seines Sohnes in die ewige Herrlichkeit zu führen.
Die Menschheit hat heute die Wahl, welches Frauenideal sie sich wählen will, ob das Ideal der Dirne von Babylon oder das Ideal jener Frau, die mit der Sonne bekleidet ist, welcher der Mond zu Füßen liegt und die eine Krone auf ihrem Haupte trägt. An dieser Frau, an dieser Frau muß sich die doppelte Opferflamme eines jeden Volkes entzünden, die doppelte Opferflamme eines geheiligten Ehelebens und die Flamme eines jungfräulichen Lebens im Priester- und im Ordensstand. Von dieser doppelten Opferflamme leben die Völker.
Im Jahre 1931 hat der große Papst Pius XI. einmal eine Enzyklika erlassen, in der er die Worte schrieb: „Wenn Gefahren für Kirche und Welt sich erheben, wenn der Glaube wankt, wenn die Liebe erkaltet, wenn Gefahren sich erheben für Kirche und Welt, dann nimmt die Kirche ihre Zuflucht zur Jungfrau Maria.“
Meine lieben Freunde, daß der Glaube erkaltet, daß die Liebe nachläßt, das ist heute offensichtlich. Machen wir das Wort unseres Heiligen Vaters wahr, nehmen wir unsere Zuflucht zu Maria, zu der Mutter, deren Herz nicht aufgehört hat, für uns zu schlagen.
Amen.