30. Dezember 2012
Das Ende des bürgerlichen Jahres
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das bürgerliche Jahr geht zu Ende. Wir Christen haben noch ein anderes Jahr, das Kirchenjahr. Und dieses Kirchenjahr richtet sich nach den Ereignissen der Heilsgeschichte. Es setzt ein mit der Geburt Jesu und läuft dann die übrige Zeit weiter. Aber die Kirche passt sich
natürlich auch dem bürgerlichen Jahr an und nimmt teil an dem bürgerlichen Geschäftsverkehr. Wir wollen heute an einem der letzten Tage dieses Jahres zurückschauend drei Feststellungen treffen und drei Fragen stellen. Drei Feststellungen und drei Fragen.
Die erste Feststellung lautet: Wir haben gelebt. Wenn wir nachdenken über unser Leben, sollte uns eigentlich die Tatsache, dass wir noch am Leben sind, am meisten überraschen. Wir durften ein weiteres Jahr auf dieser Erde wandeln, die wir trotz allem lieben. Gott hat uns noch Zeit gelassen. Er hat uns das vergangene Jahr geschenkt, unser Leben zu bessern und uns auf den Heimweg vorzubereiten. "Wie glücklich und klug ist doch der Mensch, der keine andere Sorge kennt als so zu leben, wie er im Tode wünschen wird, gelebt zu haben", schreibt das Buch von der ‚Nachfolge Christi‘. In der Kirche Santa Sabina in Rom ist das Grabmal des Kardinals Valentini. Und auf diesem Grabmal steht eine Inschrift, die lautet: "Ut moriens viveret vixit ut moriturus". Damit er beim Sterben zu leben anfinge, lebte er wie einer, der weiß, dass er sterben muss. Wir haben gelebt, wir haben leben dürfen und das ist ein Geschenk. Der französische Abbé Sieyès wurde gefragt, was er in den schlimmsten Zeiten der Revolution gemacht habe. Er antwortete: "J‘ai vécu“, ich habe gelebt. Das war viel in einer Zeit, wo man leicht den Kopf verlieren konnte! Von der Mutter Teresa stammt das schöne Wort: "Das Leben ist eine Chance, nütze es! Das Leben ist ein Traum, mach‘ daraus Wirklichkeit. Das Leben ist eine Pflicht, erfülle sie. Das Leben ist ein Spiel, spiele es. Das Leben ist kostbar, gehe sorgfältig damit um. Das Leben ist Reichtum, bewahre ihn." Das vergangene Jahr bot uns Gelegenheit, Umgang mit Gott zu pflegen. Wir haben gebetet, jeden Tag. Wir durften die Heilige Messe besuchen, und manche von Ihnen tun das jeden Tag. Wir durften die heilige Kommunion empfangen. Wir durften das Bußsakrament empfangen. Wir durften die Wahrheit Gottes hören und lesen, in Predigt und Büchern. Wir haben die Belehrungen Gottes entgegengenommen. Wir haben im vergangenen Jahr versucht, mit Gott zu leben.
Leben ist Bewegung. Die meisten von uns durften sich bewegen, waren nicht an einen Rollstuhl oder an ein Bett gefesselt, wie unser lieber Herr Groll, unser langjähriger Organist. Wir durften wirken in dem Umfeld, das uns zugedacht ist: im häuslichen Bereich, im kommunalen Bereich, im kirchlichen Bereich. Wir durften zusammen sein mit den Menschen, die wir kennen, die uns kennen, die wir lieben, die uns lieben. Ich betrachte es immer als ein unverdientes Geschenk, dass ich in meinem Leben so viele wertvolle Menschen kennenlernen durfte. Sie haben mein Leben bereichert. Sie haben mich gestärkt und getröstet. Sie haben mich freilich auch beschämt mit ihrer Frömmigkeit und ihrer Tugend. Wir durften Anteil haben an den Freuden dieses Lebens. Sie waren vielleicht nicht sehr zahlreich, aber wer recht zu leben versteht, der weiß auch den einfachen und alltäglichen Dingen Freude abzugewinnen. Dass man morgens aufstehen kann, dass man sein Tagewerk verrichten darf, dass man satt wird und ein Dach über dem Kopf hat, das sind ja keine Selbstverständlichkeiten. Unzähligen Menschen fehlt das alles. Es sind Wohltaten, für die wir Gott danken müssen. Weise Lebensführung ist kein Zufall. Man muss sie lernen. Das Leben ist ein Buch. Toren durchblättern es flüchtig. Nur der Weise liest es mit Bedacht, weil er weiß, dass er es nur einmal lesen kann. Wir haben gelebt, das ist die erste Feststellung.
Die zweite Feststellung lautet: Wir haben gearbeitet. Die Arbeit ist dem Menschen seit den Uranfängen aufgetragen. Im ersten Buch der Heiligen Schrift heißt es: „Gott der Herr nahm den Menschen und brachte ihn in den Garten Eden, damit er ihn bebaue und pflege.“ Das Paradies war kein Schlaraffenland. Damit er ihn bebaue und pflege. In der Arbeit findet der Mensch ein Stück seiner Erfüllung. Er gebraucht die Kräfte des Körpers und der Seele, um damit etwas Nützliches zu leisten. Ja, die Tätigkeit ist das, was den Menschen glücklich macht. Die in ihrer Alltagsarbeit froh werden, sind viel glücklicher als die Freizeitfanatiker. Die alltäglichen Forderungen sind es, an denen man reift. Arbeit und Pflichterfüllung sind das Fundament jedes wahren inneren Glückes. Unsere Dichter haben uns darüber belehrt. Bei Schiller heißt es: "Arbeit ist des Bürgers Zierde, Segen ist der Mühe Preis; rastlos vorwärts musst du streben, nie ermüdet stille stehen, willst du die Vollendung sehen!" Persönlichkeiten werden nicht durch schöne Reden geformt, sondern durch Arbeit und Leistung. Kein Segen kommt der Arbeit gleich. Und nur der Mensch, der sein ganzes Leben gearbeitet hat, kann sagen, ich habe gelebt. Ein Mensch, der seine Arbeit liebt, wird niemals alt. Gewiss haben wir gelegentlich unter der Erfolglosigkeit, unter der Unfruchtbarkeit, unter dem Übermaß der Arbeit gestöhnt, aber wir waren bewußt, dass auch diese Begleitschaft der Arbeit unerläßlich ist. "Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen", so steht im ersten Buch der Bibel. Und der Verfasser des Buches von der ‚Nachfolge Christi‘ sagt uns: "Wozu suchst du Ruhe, da du zur Arbeit geschaffen bist?" Die zweite Feststellung lautete: Wir haben gearbeitet.
Die dritte: Wir haben gelitten. Es werden nicht viele unter uns sein, die sagen können, es ist alles glatt gegangen, im vergangenen Jahr, ich habe nichts als Freude und Gelingen erlebt. Die Allermeisten werden bestätigen: Über mich sind allerlei Beschwerden, Leiden und Schmerzen gekommen. Manche von uns wurden von Krankheit, Unfall und Unglück heimgesucht. Ich habe gelesen, im vergangenen Jahr hat jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik eine Operation durchgemacht, jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik. Das Leiden ist allgemein, die einzelnen Leiden sind verschieden. Manchen von uns mag sein Ungenügen schmerzhaft bewußt geworden sein, das Zurückbleiben hinter den Forderungen, die Unzufriedenheit mit sich selbst, der Selbstzweifel. Wie heißt es doch im Faust von Goethe: "Ach, dass dem Menschen nichts Vollkommenes wird auf Erden." Die ewige Beglaubigung der Menschheit sind Tränen. Keines Menschen Alltag ist frei von erbärmlichen Stunden. „Des Lebens ungemischte Freude ward keinem Sterblichen zuteil", heißt es bei Schiller. So mancher wird feststellen müssen: In meiner Familie, an meinem Arbeitsplatz, in meiner Umgebung gab es Konflikte, Streit, Unfrieden. An manchen waren wir unschuldig, aber es sind auch manche, an denen wir mitschuldig wurden. Wir wollten Recht behalten, wir wollten nichts hinnehmen, wir wollten uns durchsetzen, wir wollten nicht nachgeben. Wir haben gesehen, wie die Tugend verachtet und das Laster verherrlicht wird. Wir haben erlebt, wie tatenlose Menschen beiseite gestellt und anrüchige Typen ihnen vorgesetzt werden. An zwei Dinge, meine lieben Freunde, muss man sich im Leben gewöhnen: An die Unbilden der Zeit und an die Ungerechtigkeit der Menschen. Das Leid hat manchen von uns durch das ganze Jahr begleitet. Es ist nichts Außergewöhnliches. Vollkommene Sicherheit und vollkommenen Frieden gibt es hier auf Erden nicht. Und wir sollten begreifen, warum wir leiden müssen: Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschheit. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen. Der Schmerz ist ein heiliger Engel! Durch ihn sind Menschen größer geworden als durch alle Freuden der Welt. Deswegen fragen wir nie, meine lieben Freunde, warum gibt es Leid, sondern wozu dient es mir? Leiden sind Lehren. Man muß sie nur vernehmen. Wir sind ja auch im Leiden nicht verlassen. Gott ist bei uns. Er hilft nicht immer an den Leiden vorbei, aber er hilft durch die Leiden hindurch. Und wenn wir die Mystiker hören, wie die hl. Theresia, dann erfahren wir, dass Gott jene, die er lieb hat, den Weg der Leiden führt, und jenen, denen seine größere Liebe gilt, um so härtere Leiden auflädt. Das waren die drei Feststellungen. Wir haben gelebt, wir haben gearbeitet, wir haben gelitten.
Jetzt kommen drei Fragen. Die erste, die wichtigste: „Haben wir geliebt?“ Als der Herr sich anschickte, von dieser Welt zu gehen, sprach er zu seinen Jüngern: "Das ist mein Auftrag für euch, dass ihr einander liebet. Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebet. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe habt untereinander." Wir alle wissen, wie schwer es ist, die Menschen, alle Menschen, zu lieben; mit ihren Schwächen, mit ihren Unarten, mit ihrem Versagen, mit ihrem Übelwollen, mit ihrer Bosheit. Und dennoch: an jedem Menschen, meine lieben Freunde, ist etwas Rührendes, ist ein geheimer Wert, ist eine seelische Kostbarkeit. Und die Menschen brauchen unsere Liebe. Sie brauchen mehr Liebe, als sie verdienen. Am Ende des Jahres stellen wir uns die Frage: Haben wir Wohlwollen zu den Menschen gehabt? Haben wir ihnen Gutes gewünscht und gegönnt? Es gibt wenige menschlichen Handlungen, die schäbiger sind als die Schadenfreude. Haben wir die Not anderer gesehen, die leibliche und die oft noch schmerzlichere seelische Not? Haben wir Menschen beigestanden in ihrer Not? Haben wir sie gestärkt, getröstet, aufgerichtet? Haben wir auch ein Herz gehabt für die plumpen, für die reizlosen, für die unangenehmen Menschen, für die lästigen? Oder sind wir ihnen aus dem Wege gegangen, um nicht beansprucht zu werden? Wenn wir schwierigen Menschen die Liebe entziehen, dann werden sie noch unleidlicher. Haben wir den Menschen verziehen, meine lieben Freunde? Haben wir ihnen das Unrecht von Herzen verziehen oder haben wir es ihnen nachgetragen, wie viele Menschen es machen, sie kommen immer wieder auf die alten Dinge zurück? Wie heilsam ist doch das Verzeihen. Es entgiftet die eigene Seele und baut die Brücke zum Nächsten.
Die zweite Frage lautet: Haben wir gefehlt? Es wird wohl niemand unter uns sein, der ehrlich davon überzeugt ist, im vergangenen Jahr allezeit den Erwartungen Gottes entsprochen zu haben. Wohl jeder von uns wird sich erinnern: ich bin hinter Gottes Forderungen zurückgeblieben. Eine unausrottbare Gefahr für unser Leben ist der Hang zur Bequemlichkeit. Der Mensch möchte es angenehm haben, möchte behaglich leben, und so meidet er Anstrengung und Überwindung. Ein jeder muss sich am Ende des Jahres fragen: Wie oft habe ich diesem Hang nachgegeben? Müdigkeit und Unlust, Schwäche und Trägheit haben verhindert, dass wir alles aus uns herausgeholt haben, was möglich gewesen wäre. Ohne Überwindung von schlechten Neigungen, Trieben und Leidenschaften kann unser Leben nicht gelingen. "Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht. Wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht", sagt Goethe. Je mehr der Mensch sich selbst überwindet und die Werke des Fleisches ertötet, desto weiter schreitet er im Guten, desto größeren Gaben macht er sich fähig und wert. "Siehe", so mahnt der Verfasser des Buches von der ‚Nachfolge Christi‘, "siehe, zweifache Freude kannst du nicht haben. Dich hier auf Erden mit den törichten Freuden töricht ergötzen und drüben mit Christus herrschen, siehe, das kannst du nicht. Du musst dich entscheiden." Es gibt freilich einen Trost für unsere Schwächen, das ist die Reue. Die Reue, meinen lieben Freunde, ist ein Gnadengeschenk Gottes. Reue ist der Schmerz der Seele, die Betrübnis des Herzens über die begangene Sünde, der Abscheu vor der Sünde, der Unwille über die eigene Handlung. Die vollkommene Reue geht hervor aus der vollkommenen Liebe. Was ist die vollkommene Liebe? Sie besteht darin, dass wir Gott um seiner selbst willen lieben. Nicht wegen der Wohltaten, die er uns gibt, nicht wegen der Verzeihung, die er uns schenkt, sondern weil er so herrlich, so herrlich groß und wunderbar ist. Diese vollkommene Liebe soll die vollkommene Reue tragen. Viele wissen nicht, welches kostbare Geschenk die vollkommene Reue ist. Vor allem Jugendliche, die mit ihrer Natur zu kämpfen haben. Bei Selbstbefleckung denken sie, ach, jetzt ist es geschehen, jetzt kann ich es auch noch vier-, fünfmal machen. Nein! Noch am selben Abend, wo du eine Todsünde begangen hast, kannst du dich mit der vollkommenen Reue mit Gott versöhnen. Die vollkommene Reue tilgt die Sünde in dem Augenblick, wo sie hervorgebracht wird. Freilich verbunden mit dem Vorsatz, so bald wie möglich das Bußsakrament zu empfangen. Aber die vollkommene Reue, die aus der selbstlosen Liebe zu Gott hervorgeht, söhnt den Menschen mit Gott aus, noch bevor er das Bußsakrament empfangen hat. Das ist eine wunderbare Wahrheit. Wie hätten wir in der priesterlosen Zeit, in der Gefangenschaft usw., wo es kein Priester gab, wie hätten wir sonst von der Sünde frei werden können? Durch die vollkommene Reue war es möglich! Üben wir diese wunderbare Tugend der Reue. Keiner der reuigen Herzens ist, wird von Gott verstoßen.
Die dritte Frage lautet: Haben wir die gute Meinung gehabt? Zu allem guten Handeln, meine Freunde, gehört die Hinordnung auf Gott. Wir sprechen von der guten Meinung. Darunter versteht man die Absicht, alles zur Ehre Gottes oder aus Liebe zu Gott zu tun. "Ihr möget essen oder trinken, oder etwas anderes tun. Tut alles zur Ehre Gottes", schreibt Paulus an die Korinther. "Alles, was ihr tut, in Wort oder Werk, tut alles im Namen des Herrn Jesus, indem ihr Gott Dank sagt durch ihn." Alles! Durch die gute Meinung erlangt der wahre Gott die umfassende Stellung in unserem Leben, würdigt der Herr unsere Entschlüsse, unsere Überlegungen, unsere Taten. Die Hinordnung auf Gott braucht keine aktuelle zu sein. Man muss sich also nicht immerfort sagen, ich möchte das zur Ehre Gottes verrichten. Nein, wenn du am Morgen sprichst: „Ich möchte diesen Tag zur Ehre Gottes, zum Heil meiner Seele, zum Segen für meine Mitmenschen verbringen“, dann ist alles eingeschlossen in dieser guten Meinung. Lass mich o Gott, diesen Tag zu deiner Ehre, zum Heil meiner Seele, zum Segen für meine Mitmenschen verbringen. Diese gute Meinung trägt das ganze Tagewerk. Dank und Reue sollen die letzten Stunden des vergangenen Jahres bestimmen. Dank für alles, was Gott uns gewährt hat, in den zwölf Monaten. Reue wegen dessen, was wir durch eigene Schuld verfehlt haben. Ein schönes Wort lautet: "Quod vixi tege quod vivam rege!“ „Decke mein vergangenes Leben zu; mein künftiges Leben lenke du!" Ich lernte einmal die Generaloberin der Mallersdorfer Schwestern in der Diözese Regensburg kennen. Eine wunderbare Frau, Concordia mit Namen. Auf dem Sterbebett bekannte sie: "Ich fürchte mich nicht vor dem Tode, denn ich habe immer für den lieben Gott gearbeitet.“ Ach, wer ihr das nachsprechen könnte: Ich fürchte mich nicht vor dem Tode, denn ich habe immer für den lieben Gott gearbeitet. Meine lieben Freunde, eines ist so leicht und so schwer wie das andere. In Gott hinein sterben und in Gott hinein leben. Wer in Gott hinein lebt, wird auch in Gott hinein sterben. Wer den Mut hat, in Gott hinein zu leben, der wird auch die Kraft finden, in Gott hinein zu sterben.
Amen.