3. September 2000
Der allgemeine Heilswille Gottes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Im Bereich der Gnade ist grundlegend der Unterschied zwischen der wirksamen und der hinreichenden Gnade. Die wirksame Gnade ist jener Impuls Gottes, durch den wir mit unfehlbarer Sicherheit zu einem heilshaften Handeln bewegt werden. Die hinreichende Gnade ist jener Impuls Gottes, der uns zwar die Fähigkeit gibt, heilshaft zu handeln, wo aber das heilshafte Handeln nicht zustande kommt wegen unseres Widerstandes.
Nun wissen wir, daß Gott das Heil aller Menschen will; er ist ja ein Gott für alle Menschen. Und so hat er auch die Verfügung getroffen, daß alle Menschen das Heil, also den Himmel, die Freude und Seligkeit bei Gott, erlangen sollen. Er muß also jedem hinreichende Gnade geben. Es kann keinen Menschen geben, der sagen kann: Mir hat die Gnade gefehlt. Einem jeden steht die hinreichende Gnade, also die Möglichkeit, zu Gott zu kommen, die Fähigkeit, heilshaft zu handeln, zur Verfügung.
Im 16. Jahrhundert trat ein Mann auf namens Johannes Calvin. Dieser düstere Mann hat die Menschen in zwei Klassen eingeteilt, in die Berufenen und in die Verdammten, und zwar geht nach seiner Meinung diese Einteilung auf Gott zurück. Gott bestimmt die einen zur Seligkeit und die anderen zur Unseligkeit. Man kann nach Calvins Meinung sogar schon während dieser Erdzeit erkennen, wer zu der einen Gruppe und zu der anderen gehört. Derjenige nämlich, der durch tätigen Fleiß sich Wohlstand erwirbt, der gehört zu den Auserwählten; und der andere, der nicht zu Wohlstand gelangt, der gehört zu den Verworfenen. Wir wissen, daß diese Ansichten Calvins den großen deutschen Soziologen Max Weber dazu bewogen hat, ein Buch zu schreiben über den Geist des Kapitalismus. Er ist der Meinung, daß der Geist des Kapitalismus durch diese Lehre Calvins erzeugt wurde. Wer nämlich die Bestätigung haben will, daß er zu den Auserwählten gehört, der wird sich auf Erden besonders anstrengen, um irdischen Gewinn zu erzielen, und seine Anstrengung wird auch zum Erfolg führen. Die Kirche hat auf dem Konzil von Trient diese Ansicht zurückgewiesen. „Wer behauptet, die Rechtfertigungsgnade werde nur den zum Leben Vorherbestimmten zuteil, alle übrigen Gerufenen aber würden zwar gerufen, ohne aber die Gnade zu empfangen, da sie durch göttliche Macht zum Bösen vorherbestimmt seien, der sei ausgeschlossen.“
Gott gibt einem jeden Menschen die hinreichende Gnade, aber er zwingt niemanden. Er will das Heil eines jeden Menschen, aber er will es nicht gegen den Willen des Menschen. Der Mensch entscheidet letzlich, ob er zum Heile gelangt oder nicht, indem er eben der Gnade zustimmt oder die Gnade abweist. Unser schlesischer Dichter Angelus Silesius hat es so schön in Worte gefaßt: „Mensch, deine Seligkeit kannst du dir selber nehmen, so du dich nur dazu willst schicken und bequemen.“ Wie richtig hat er diese Wahrheit des Glaubens erfaßt! Mensch, deine Seligkeit kannst du dir selber nehmen, so du dich nur dazu willst schicken und bequemen. Gott ist ein Liebhaber der Freiheit, und so läßt er dem Menschen die Wahl. Er läßt ihn wählen, ob er ein Leben in Seligkeit oder in Unseligkeit will, ein Leben in Gemeinschaft oder in Einsamkeit, ein Leben in der Rettung oder in Verworfenheit.
Gott will, daß alle Menschen zum Heile kommen und das ewige Leben gewinnen. Der Apostel Johannes spricht es schon im Prolog seines Evangeliums aus, daß der Täufer Johannes zum Zeugnis kam, um Zeugnis zu geben von dem Licht, damit alle – alle! – durch ihn glaubten. Und da ja der Glaube zum Leben führt, bedeutet das, daß, wenn allen der Glaube angeboten wird, auch allen die Seligkeit angeboten wird. Er war nicht das Licht (Johannes), sondern er war nur der Zeuge vom Lichte. Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Also hier wird erneut ausgesagt, daß die Gnade, die Erleuchtung einen jeden Menschen trifft; keiner ist ausgenommen. Und deswegen kann auch im Johannesevangelium von den Samaritern über Jesus gesagt werden: „Wahrhaftig, dieser ist der Heiland der Welt.“ Der Heiland der Welt, das heißt aller Menschen. Paulus hat diese Verkündigung aufgenommen, wenn er im ersten Timotheusbrief schreibt: „Ich ermahne euch: Verrichtet Bitten, Gebet, Fürbitten, Danksagungen für alle Menschen, damit wir ein stilles und ruhiges Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit. So ist es recht und angenehm vor Gott, unserem Heiland. Denn er will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen.“ Das ist ein locus classicus für den allgemeinen Heilswillen Gottes. Gott will, daß alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Und noch einmal in demselben Briefe schreibt der Apostel: „Wir mühen uns, weil wir unsere Hoffnung gesetzt haben auf den lebendigen Gott, den Retter aller Menschen.“ Den Retter aller Menschen, das besagt: Der allgemeine Heilswille Gottes umgreift alle Menschen.
Das hat dann eine doppelte Auswirkung. Erstens: Auch die Menschen, die vom Evangelium noch nicht berührt sind, erhalten hinreichende Gnade. Gott will auch die Menschen, zu denen die Botschaft von Jesus Christus noch nicht gedrungen ist, zum Heil führen. Wir wissen nicht die Wege, aber wir wissen seinen Willen, und der Papst, der heute seliggesprochen wird, Pius IX., hat diese Wahrheit schon vor über 150 Jahren ausgesprochen. Damals hat er nämlich erklärt: „Es ist zwar Uns und euch bekannt, daß jene, die an einer unüberwindlichen Unwissenheit bezüglich unserer heiligen Religion leiden und die andererseits das Naturgesetz und dessen von Gott in aller Herzen geschriebene Gebote sorgfältig beobachten sowie mit Gehorsamsbereitschaft für Gott ein anständiges und ordentliches Leben führen, mit Hilfe der göttlichen Erleuchtung und Gnade das ewige Leben erlangen können. Denn Gott, der den Geist, die Gesinnung, die Gedanken und die ganze Einstellung jedes Menschen vollkommen klar vor Augen hat, durchschaut und kennt, kann bei seiner höchsten Güte und Milde keineswegs zulassen, daß jemand mit ewigen Peinen bestraft wird, der sich keine freiwillige Schuld zugezogen hat.“ Hier ist also die Wahrheit vom allgemeinen Heilswillen Gottes, der auch die vom Lichte Christi noch nicht sichtbar Erleuchteten umfaßt, ausgesprochen.
Die zweite Wahrheit, die sich daraus ergibt, ist, daß Gott auch jedem gläubigen Sünder die Fähigkeit gibt, sich zu bekehren. Es kann keiner sagen: Ich war in der Sünde, und Gott hat mich nicht aus der Sünde herausgeholt. Ich war ein verlorener Sohn, und Gott hat mich nicht zurückgerufen. Nein. Gott nimmt sich jedes Sünders, auch des verstockten Sünders, an. Verstockt ist der Sünder, dessen Verstand verfinstert und dessen Wille verhärtet ist. Es gibt eine Verstockung im Bösen, das ist der Widerstand gegen die Gnade. Das Böse kann sich im Menschen verfestigen. Verfestigt ist das Böse dann, wenn der Mensch eine hartnäckige Anhänglichkeit an die Sünde hat. Es gibt auch eine Verblendung im Bösen. Verblendet ist derjenige, der durch dauernde Abwehr der göttlichen Gnade die Unfähigkeit in sich erzeugt hat, die Gnade aufzunehmen, die Unfähigkeit, Göttliches zu denken und Göttliches zu wirken. Auch diese Sünder werden von der Gnade Gottes getroffen; auch sie will Gott zur Bekehrung rufen. Ein Zeichen für die immer vorhandene hinreichende Gnade Gottes ist ja das Bußsakrament. Das Bußsakrament steht einem jeden Sünder offen, der sich von seiner Sünde bekehren will. Wiederum sagt das Konzil von Trient: „Die aber durch die Sünde von der Höhe der Rechtfertigungsgnade herabgefallen sind, können aufs neue gerechtfertigt werden, wenn sie, geweckt von Gott, Sorge tragen, durch das Bußsakrament aufgrund der Verdienste Christi die verlorene Gnade wiederzugewinnen. Diese Weise der Rechtfertigung ist die Wiederaufrichtung des Gefallenen, die die heiligen Väter zutreffend eine zweite Rettungsplanke nach dem Schiffbruch der verlorenen Gnade nannten. Denn für die, die nach der Taufe in Sünden fallen, hat Christus Jesus das Sakrament der Buße eingesetzt mit den Worten: ,Empfanget den Heiligen Geist. Denen ihr die Sünden nachlaßt, denen sind sie nachgelassen; denen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.‘“
Nun gibt es scheinbar Stellen der Heiligen Schrift, die dem eben Ausgeführten zu widersprechen scheinen. Wir erinnern uns daran, daß der Heiland nach einem bei Matthäus aufgezeichneten Wort gesagt hat: „Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben, aber die Lästerung wider den Geist wird nicht vergeben werden. Wer ein Wort redet wider den Menschensohn, dem wird vergeben werden; wer aber wider den Heiligen Geist redet, dem wird weder in dieser noch in der künftigen Welt vergeben werden.“ Hier ist tatsächlich von einer unvergebbaren Sünde die Rede. Wie ist das zu verstehen? Das ist so zu verstehen, daß, wer sich wissentlich der Einwirkung der Gnade verweigert, tatsächlich nicht gerettet werden kann. Wer der Gnade widersteht, wer Widerstand gegen die Gnade leistet, in dem ist die Gnade ohnmächtig. Das liegt in der Natur dieser Sünde, denn in ihr verschließt sich der Mensch gegen die Erleuchtung Gottes. Wenn er sie nicht hereinläßt, kann er auch nicht erleuchtet werden. Die Sünde besteht darin, daß er der Gnade Widerstand leistet, und solange der Widerstand dauert, ist eine Vergebung unmöglich. In dem Augenblick, in dem er den Widerstand aufgibt, kann ihm selbstverständlich auch diese Lästerung vergeben werden, aber er muß sich erst bekehren.
Es gibt auch zwei Stellen im Hebräerbrief, in denen gesagt wird, daß der Wiederholungssünder nur schwer wird gerettet werden können. An einer Stelle heißt es: „Die einmal erleuchtet worden sind und von der himmlischen Gabe genossen haben, die teilhaftig geworden sind des Heiligen Geistes und gekostet haben das herrliche Wort Gottes und die Kräfte der künftigen Welt und trotzdem abgefallen sind, die kann man nicht wieder zur Sinnesänderung erneuern, da sie für ihre Person den Sohn Gottes aufs neue kreuzigen und verhöhnen.“ Es ist an dieser Stelle nicht gesagt, daß den Menschen, die so handeln, die Gnade Gottes fehlt, sondern es ist nur gesagt, daß von ihnen nicht zu erwarten ist, daß die Gnade Gottes von ihnen aufgenommen wird, daß sich diese Menschen noch einmal der Gnade Gottes beugen. Und so wird man auch die andere Stelle im Hebräerbrief verstehen müssen, wo es heißt: „Wenn wir nämlich freiwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit erlangt haben, dann verbleibt kein Opfer für die Sünden mehr, wohl aber eine furchtbare Erwartung des Gerichtes und die Gier des Feuers.“ Hier wird auch ausgesagt, daß Vergebung nicht möglich ist. Warum nicht? Ja, weil bei einem, der nach der Taufe abgefallen ist, aus der Christusfremdheit des Ungetauften die Christusfeindschaft des Abgefallenen geworden ist. Wer die Gnade Christi und den Wert seines Leidens verachtet, wer die Gnade Gottes wie etwas Verächtliches behandelt und sie wegwirft, der stellt sich außerhalb des Raumes, in dem überhaupt Vergebung möglich ist. Vergebung gibt es nur im Raume der Gnade Gottes und des Blutes Christi. Und wer außerhalb dieses Raumes tritt, an dem ist tatsächlich eine Rettung verloren.
Nun, meine lieben Christen, wir sollen uns die ernsten Worte der Heiligen Schrift nicht ersparen. Die Heilige Schrift enthält nicht nur angenehm klingende Weisungen, sondern auch drohende Worte. Aber gleichzeitig hält sie einen Trost für uns bereit, nämlich: Wer nur einen Funken guten Willens hat, der wird nicht verlorengehen. „Schwer läßt Gott vom Menschen ab, für den er Blut und Leben gab.“ Einmal hat einer, der zwischen Furcht und Hoffnung hin und her schwankte, der um sein Heil besorgt war, sich vor dem Altare niedergeworfen und geklagt: „Ach, wenn ich doch wüßte, ob ich im Guten beharren werde.“ Da vernahm er in sich die Antwort Gottes: „Was würdest du tun, wenn du es wüßtest? Tue das, was du dann tun würdest, und du wirst sicher sein.“ In diesem Augenblick war dieser Mann getröstet und gestärkt, vertraute auf das Erbarmen Gottes und auf die Macht des Blutes Christi, das besser ruft als das Blut des Abel.
Amen.