Predigtreihe: Die Abenteuer des menschlichen Lebens (Teil 11)
31. August 2003
Das Sterben
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Das eindrucksvollste Abenteuer des Lebens ist das Sterben. Seit Urzeiten ist dieses Abenteuer mit dunklen Geheimnissen erfüllt und bewegt die Menschen mit einer grübelnden Scheu. Niemand kennt das Abenteuer aus eigenem Erleben. Alle, die es durchgemacht haben, sind in eine grenzenlose Ferne gegangen und können uns nicht erzählen, wie sie dieses Abenteuer bestanden haben. Wir kennen also dieses Abenteuer nur aus dem Erleben an anderen. Wie mag es erst dem zumute sein, der es selbst durchmachen muß? Eines ist sicher: Es ist das ein einmaliges und einzigartiges Geschehnis, ein Geschehnis, das wunderbarer ist als das Geborenwerden, entscheidender als alle Lebensstunden und wuchtiger als die größten Ereignisse des Lebens. Der Tod ist der Höhepunkt des Lebens.
Dem Sterbenden ist meistens eine Krankheit angehängt, dem Sterben geht ein qualvoller Zustand voraus, die Todeskrankheit. Der Todkranke kann sich nicht mehr helfen, und auch seine Umgebung ist bei einem bestimmten Zeitpunkt hilflos, umsteht ihn ohnmächtig und muß zuschauen, wie der Sterbende dem Abgrund entgegengeht. Wahrhaftig, meine lieben Freunde, das ist ein Absturz in unermeßliche Tiefen. Nichts mehr von dem Menschen bleibt, den wir kannten, dessen Wärme wir spürten. Es ist etwas ganz anderes als das Abschiednehmen. Wenn ein Mensch von uns geht, der lange bei uns war, den wir gekannt, den wir geliebt haben, dann ist auch eine große Leere in uns, wenn wir vom Bahnhof zurückkehren, und ein Heimweh. Aber beim Abschiednehmen gibt es immer noch einen Trost. Wir wissen, wohin der andere gegangen ist; wir kennen den Ort, wo er sich jetzt aufhält, und wir haben die Hoffnung, daß er einmal wiederkehrt. Anders ist es beim Sterben. Wir können die Türen auflassen, solange wir wollen, der Verstorbene kehrt nicht wieder. Wir können wachen und warten, solange wir wollen, er ist auf ein Nimmerwiedersehen verschwunden. Er ist in eine alleräußerste Ferne gegangen, in eine Weite, die wahrhaft unendlich ist, von der es keine Rückkehr gibt. The undiscovered country, from whose born no traveller returns – wie es im „Hamlet“ von Shakespeare heißt: das unentdeckte Land, von dessen dort Geborenen kein Reisender zurückkehrt.
Wahrhaftig, wir können die Hand des Verstorbenen nicht mehr ergreifen, wir können ihm kein Wort mehr zuflüstern, kein Ruf kann ihn mehr erreichen, kein Name kann ihn mehr aufmerken lassen. Das ist der furchtbare Eindruck, den das Sterben eines Menschen auf uns macht. Der Mensch, den wir liebten, ist in eine unabsehbare Ferne gegangen. Er ist in eine vollkommene Hilflosigkeit gegangen, in der ihn keine Kreatur mehr erreicht von all denen, die wir kannten. Keine Nähe, kein Trost, keine Wohltat kann ihm mehr gespendet werden.
Und doch, meine lieben Freunde, in diesem Nichts, in das der Tote gegangen zu sein scheint, ist noch einer da, nämlich Gott. Gott ist noch da. Die Seele des Hingeschiedenen steht vor Gott und vor sonst niemand. Und damit erreicht das Sterben erst seine furchtbare Größe und Höhe. Gott ist noch da; Gott ist immer da. Er ist nicht in das Nichts gefallen, sondern eine Vertrautheit, eine Nähe, eine Gegenwart ist ihm geblieben oder, so können wir sagen, hat sich ihm jetzt erst recht aufgetan: Gott. Er ist also nicht in die völlige Fremde gegangen, nicht in die allumfassende Verlassenheit. Es ist noch jemand da: Gott ist noch da, der schon immer da war, auch während des Erdenlebens. Gott ist noch da. Und damit ist auch eine Heimat da, eine Vertrautheit, eine Geborgenheit, ein Ruf, eine Stimme, die den Verstorbenen anspricht, ein lebendiger Begleiter, derselbe, mit dem der Mensch schon über die Erde gegangen ist, er ist noch da. Also ist auch nichts verloren, denn mit Gott ist alles da.
Gott kann in jedem Augenblick eine ganze Welt wiedererschaffen; Gott kann jeden Augenblick all die Menschen, die der Sterbende zurückgelassen hat, wieder zu ihm führen. Er kann die Hände, die betend und flehend sich zu ihm erheben, nehmen und führen, so daß sie selbst aus einer unendlichen Ferne noch wohltuend für den Verstorbenen sind. Gott ist noch da, und das ist ein Trost, den der Sterbende hat, den ihm niemand nehmen kann.
Aber freilich, dazu tritt ein anderer Gedanke, nämlich: Gott allein ist noch da. Das heißt, der Verstorbene ist Gott ausgeliefert, er ist ihm preisgegeben, er ist ihm ganz und gar überantwortet, diesem Gott allein und keinem Geschöpf. Keine Macht, keine Liebe und keine Weisheit eines Geschöpfes kann bei diesem Zusammensein Gottes mit dem Menschen dazwischentreten, denn alles ist zurück geblieben. Niemand kann den Menschen von Gott abfordern, niemand kann ihn seinen Händen entreißen. Er ist Gott ausgeliefert.
Nun ist das freilich der Mensch auch schon in seiner Erdenzeit. Auch da ist er Gott ausgeliefert. Aber da ist er nicht allein. Da sind die Geschöpfe um ihn, und diese Geschöpfe können ihn in einem gewissen Maße trösten. Er ist umringt von den Geschöpfen, und da hat man das Gefühl, daß man nicht allein ist, nicht so furchtbar allein ist, wenn es Wesen gibt, wenn auch gebrechliche Wesen, die um uns sind. Aber im Augenblick des Sterbens bleiben alle Geschöpfe zurück. Die Seele wird herausgerissen aus der Umgebung der Geschöpfe. Da ist der Mensch erst eigentlich allein, völlig allein, wenn nichts mehr um ihn ist als die Unendlichkeit Gottes.
Das sind also die beiden Aussichten, denen der Sterbende entgegengeht: Gott ist noch da und Gott allein ist noch da. Ihm ist er übergeben, aber ihm ist er auch ausgeliefert. Und da erklärt sich die einzig mögliche Weise, wie man das Sterben wahrhaft bestehen kann. Nämlich das Abenteuer des Sterbens besteht nur derjenige, der aus dem gewaltigen Schicksal, das da über ihn kommt, eine große Tat macht, der aus der Auslieferung eine eigene Entscheidung macht. Der Mensch besteht das Sterben, der aus dem Tode ein Werk macht, ein Werk, größer als alles, was der Mensch sonst getan hat, ein Lebenswerk. Dieses Lebenswerk besteht darin, daß er sich frei, vertrauend und liebend in Gott hineinfallen läßt, daß er sich in Gott hineinbegibt mit liebendem Vertrauen und vertrauender Liebe. Das ist die einzig würdige, schöne und rechte Weise, dem Sterben einen Sinn zu geben, sich in Gott hineinfallen zu lassen, sich und alles, was man ist und was man hat, was man geleistet und was man versäumt hat, was man gearbeitet und erarbeitet hat, alles, was zu der Seele gehört, in Gott hineinfallen lassen. Hier ist eine einzigartige und nie wiederkehrende Gelegenheit, Gott ein Vertrauen von unvergleichlicher Größe entgegenzubringen.
Da wäre alle Furcht und alles Zagen und auch alle Weigerung, diese Stunde auf sich zu nehmen, unangebracht. Hier ist der Glaube verlangt, der Glaube. Da kann man nicht sagen: Ich möchte gern noch bleiben, ich möchte gern noch warten. Es kann gewiß Gründe geben, meine lieben Freunde, die diesen Wunsch uns nahelegen. Da sind Menschen, die uns brauchen; da sind Menschen, die auf uns vertrauen, die wir hilflos zurücklassen müssen, und das kann in uns den Wunsch und die Bitte und das Flehen erzeugen: Ach, gib mir noch ein paar Jahre, bis ich diese Aufgabe erledigt habe. Auch aus einem anderen Grunde kann man den Wunsch in sich tragen, noch warten zu wollen, nämlich weil man noch nicht vollendet ist, weil man noch nicht bereitet ist, weil noch so viel Schlacken an uns hängen, die abgeworfen werden müssen, bevor wir rein und fleckenlos in die Ewigkeit eingehen. Das sind Gründe, die man verstehen kann. Aber auch diese Gründe müssen in das Vertrauen hineingeworfen werden. Auch da muß der Mensch sagen: Du weißt besser, was für mich gut ist. Du weißt besser, warum diese Stunde schlägt, als ich. Du weißt, warum ich jetzt abberufen werde und nicht in zehn oder zwölf Jahren.
Da entscheidet es sich, wer wahrhaft groß denkt von Gott und wer eine wahrhaft große Liebe zu Gott hat, wer kühn und liebeskühn sich in Gott hineinbegibt. Da entscheidet sich, ob der Mensch Glauben hat oder nicht. Da wirft er tatsächlich alles hin, was er besitzt, um etwas zu gewinnen, was er noch in keiner Weise sehen kann, was er aber erhofft und woran er glaubt. Er geht gewissermaßen, menschlich gesehen, in das Nichts hinein und läßt alles, nämlich alles Irdische, hinter sich. Das ist das letzte Spiel, das ein Mensch spielen kann. Ich weiß nicht, was Gott mit mir machen wird, aber ich lasse ihn alles machen, was er zu tun gedenkt. Mein kommendes Schicksal ist dunkel, aber ich ergreife es und ziehe es fest in mein Herz hinein.
Es war einmal einer, meine lieben Freunde, der auch sterben mußte in der Blüte seiner Jahre, ein, wie uns scheint, ein Unvollendeter, und er sprach ein Sterbegebet von ergreifender Macht und Wirklichkeit, und dieses Sterbegebet lautet: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“ Das ist ein Sterbegebet, das jeder von uns sich schon im Leben angewöhnen sollte. Wir Priester beten es jeden Abend im Nachtgebet: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist, heute und morgen und übermorgen, vor allem aber in jener Stunde, wenn du sagen wirst: Komm, laß den Spaten stehen, du hast genug gearbeitet. Die Stunde ist da, da ich dich zu mir rufe. Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist!“
Amen.