Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
26. Dezember 2024

Stille Nacht, heilige Nacht

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Am 24. Dezember 1818 erschien in der Kirche des kleinen österreichischen Dörfchen Oberndorf am Ufer der vereisten Salzach ein Mann in schwarzem Gehrock. Er hieß Franz Gruber und war einunddreißig Jahre alt. In Arnsdorf war er Schulmeister und in Oberndorf Organist in der Kirche. Er rückte die Orgelbank zurück, setzte den Fuß auf das Pedal und drückte die Tasten. Doch aus den Pfeifen kam kein Ton. Bevor er feststellen konnte, woran das lag, hörte er ein Geräusch an der Tür, und als er sich umwandte, erblickte er seinen Freund Joseph Mohr, Aushilfspfarrer, der vorübergehend in Oberndorf die Aufgaben des Geistlichen wahrnahm. „Grüß Gott, Joseph“, rief Gruber. „Was gibt es?“ Der junge Priester, sechsundzwanzig Jahre alt und von fröhlicher Wesensart, hob hilflos die Arme und winkte seinem Freund, ihm zu folgen. Er führte Gruber in den Raum hinter dem Pfeifenwerk, wo die Lederbälge das Instrument mit Wind versorgten, und zeigte auf ein Loch in dem abgenutzten Leder. „Hier – das habe ich heute Morgen entdeckt. Das muss eine Maus durchgenagt haben. Beim ersten Pedaltritt fiel das ganze Ding zusammen.“ Gruber besah sich den Schaden und erschrak. Eine Weihnachtsmesse ohne Musik – das war undenkbar. „Da sitzen wir ja schön in der Patsche. Was machen wir bloß?“ „Ja, weißt du“, sagte Mohr fast schüchtern, „ich habe da nämlich ein kleines Gedicht gemacht.“ Er räusperte sich und fügte eilig hinzu: „Eigentlich ist es der Text zu einem Lied.“ Der Lehrer lachte. Es war kein Geheimnis, dass Mohr solche Lieder liebte. Seine Mutter war eine arme Näherin in Salzburg gewesen. Der Mann hatte sie verlassen. Als sie ihren kleinen Sohn Joseph taufen lassen wollte, fand sich kein Pate. Schließlich war es der Henker, der sich bereit erklärte, den Kleinen über das Taufbecken zu halten. Später übernahm es einer der Kirchenältesten, für die Erziehung des Jungen und auch für die Ausbildung im Priesterseminar zu sorgen. Gruber hielt das Gedicht in der Hand und las die ersten Zeilen. Ein seltsames Gefühl ergriff ihn. Ihm war, als spräche es direkt und unmittelbar zu ihm, still und einfach mit bewegenden Worten. Sie rührten ihn an, wie ihn noch niemals etwas angerührt hatte. Und schon begann er, einer fernen Melodie zu lauschen, die erst geboren werden sollte. Als er schwieg, sagte Mohr fast entschuldigend: „Ich dachte nur, weil doch die Orgel keinen Ton hergibt, ob du vielleicht für unsere Gitarren etwas zusammenstellen könntest. Für die Kinder müsste dann halt ein einfacher Refrain dabei sein.“ „Ja, ja, das könnte gehen“, sagte Gruber. „Lass es mir nur hier, ich nehme es mit nach Hause und werde sehen, was ich machen kann.“ Eine Stunde lang stapfte Gruber durch den hohen Schnee heim nach Arnsdorf; in seinem Kopf wuchs eine Melodie, wuchs und tönte und ließ alles ringsum verstummen. Er sah und hörte nichts anderes. In ihm fügten sich die Worte zur Melodie und zum Lied: „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht.“ Wie der taube Meister Beethoven hörte er deutlich alle Notenfolgen im Kopf und im Herzen. „Holder Knabe im lockigen Haar. Schlaf in himmlischer Ruh.“ Zu Hause, in seinem einfachen Zimmer mit dem gescheuerten Fichtenholzboden, dem Porzellanofen, den wenigen Möbeln und dem Kruzifix an der Wand setzte er sich sogleich an das Spinett. Aus den Worten quoll die Melodie, wuchs und strömte unaufhaltsam in reichem Fluss. Gruber war beglückt und angetan. Am Nachmittag versammelten sich alle im Arbeitszimmer des Priesters unter immergrünen Tannenzweigen: der Priester, der Schulmeister, zwölf kleine Jungen und Mädchen mit leuchtenden Augen. Die beiden Männer stimmten die Gitarren und unterwiesen die Kinder in dem neuen Gesang. Die Kinder sangen fröhlich und begeistert, und die Männer blickten sich befriedigt an. Ein wenig holprig noch, die dritte Zeile etwas schwierig, aber das war leicht zu verbessern; sie würden es schaffen. Heiligabend! Oben auf dem Schnee lag eine feste Kruste, darunter war die Masse so trocken, dass alles knirschte unter den schweren Schritten der Kirchgänger. Froh klang ihr „Grüß Gott“ durch die stille Nacht. Die Luft war kalt und kristallklar und stach ein wenig beim Einatmen. Hoch am Himmel hingen die Sterne. Glockenklang tönte vom hohen weißen Turm der Kirche von St. Nikolas. Drinnen spiegelten sich zahlreiche Kerzen. Liebevoll war der Raum geschmückt mit Tannenzweigen. Auf den harten Holzbänken hatte die Gemeinde Platz genommen. Ein Raunen der Überraschung ging durch die Reihen, als die zwölf Kinder mit Mohr und Gruber vor dem Altar erschienen. Die beiden Männer trugen ihre Gitarren. Gruber nickte. Die Saiten vibrierten, und nun füllten der Tenor des Priesters und der Bass des Schulmeisters das alte Kirchlein. Zum ersten Mal erklang das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Atemlos lauschte die Gemeinde. Alle Herzen wurden warm. Das Geheimnis der Weihnacht bewegte die Gläubigen. Sie vermissten den Klang der Orgel nicht mehr. Ein einfaches Lied, ein schlichter Gesang war geboren worden, der die Herzen anrührte und sie zum Krippenkind führte. Niemand in der Gemeinde, gewiss nicht der Dichter und der junge Musiker, die es erdacht hatten, ahnte, dass es um die Welt gehen sollte. Niemand wusste, dass ein paar Stunden lang die Flamme des Genies in zwei einfachen Männern gebrannt hatte, von denen man nie wieder hören sollte, und dass durch den Zauber ihrer gemeinsamen Tat an einem Weihnachtsabend in dem kleinen österreichischen Dorf ein Stück Unsterblichkeit geschaffen worden war. Dass ihr Werk nicht der Vergessenheit anheimfiel, war einem Zufall zu verdanken. Im folgenden Frühjahr kam der Orgelrestaurator Karl Mauracher vom Zillertal herauf, um die beschädigte Orgel zu reparieren. Er unterhielt sich mit Gruber und fragte, wie sie am Weihnachtsabend bei der Christmesse ohne Orgel ausgekommen seien. Gruber erzählte es ihm. „Es war ja nur ein kleines Liedchen“, sagte er. „Ich weiß nicht mal, wo ich es hingelegt habe. Mohr ist auch nicht mehr hier. Warten Sie, es kann eigentlich nur da hinten sein.“ In einem kleinen Schrank lag ein Häufchen staubiger Akten und Papiere. Und dort lag auch das Lied. Maurachers Augen folgten den Noten, die Lippen bewegten sich, und aus seiner breiten Brust kam ein tiefes Brummen. „Da ist was dran“, sagte er halblaut, „darf ich’s mal mitnehmen?“ Gruber, erfreut über die späte Anerkennung, sagte lachend: „Aber natürlich! Nehmen Sie es gern mit. Wenn Sie unsere Orgel repariert haben, wird keiner wieder danach fragen.“ Mauracher steckte Werkzeug und Lederflicken in die Tasche und verabschiedete sich. Gruber schloss die Tür und vergaß den Vorfall. So kamen Worte und Melodie von „Stille Nacht“ hinunter ins Zillertal und begannen ihre nie endende Reise um die Welt. Das Lied kam als Volkslied von Österreich nach Deutschland. Das Lied wanderte über die Grenzen, zog mit Emigranten über den Ozean. Es breitete sich aus über die ganze Erde. Bald sangen Christen von Kanada bis Tokio von der stillen, heiligen Nacht. Erst später wurden Gruber und Mohr als Urheber anerkannt; doch sie erhielten nie auch nur einen Pfennig dafür. Gruber und Mohr starben so arm, wie sie gelebt haben. Doch Grubers alte Gitarre singt noch heute für ihn. Denn sie ist erhalten geblieben und wurde in der Familie verwahrt. An jedem Weihnachtsabend wird sie nach Oberndorf gebracht. Die Kinder stellen sich auf unter den verschneiten Tannenbäumen vor der kleinen Gedächtniskapelle, die dort steht, wo einst die alte Kirche von St. Nikolas stand. Die Kapelle wurde zum Gedenken an die beiden Männer erbaut, die der Christenheit ihr schönstes Weihnachtslied schenkten. Und dort erklingt alljährlich das Lied, das wie kein anderes die Herzen der Menschen auf der ganzen Erde bewegt, das Lied „Stille Nacht, heilige Nacht“. Ich wage die Vorhersage: Solange an Weihnachten noch „Stille Nacht, heilige Nacht“ gesungen wird, solange ist das Licht, das die Krippe von Bethlehem umstrahlt, noch nicht erloschen.

Amen.

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