28. November 2021
Das (besondere) Gericht
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Unser Glaube lehrt uns: Gott ist Richter der Menschen. Sie müssen vor ihm Rechenschaft ablegen über ihr Tun und Lassen. Gottes Gericht ist zweifacher Art, das Gericht über den Einzelnen und das Gericht über die gesamte Menschheit aller Zeiten. In der Heiligen Schrift steht das allgemeine Weltgericht im Vordergrund. Doch wird das besondere Gericht vielfach angedeutet, nahegelegt oder vorausgesetzt. So in der Parabel vom reichen Prasser und vom armen Lazarus (Lk 16,19-31) und in dem Gespräch des sterbenden Herrn mit den beiden neben ihm gekreuzigten Verbrechern. Wie Lazarus sofort in den Schoß Abrahams gelangt, so wird auch der reuige Schächer „heute noch“ beim Herrn im Paradiese sein (Lk 23,43). Alles verläuft mit Blitzesgeschwindigkeit, in Blitzesklarheit und mit Blitzeskraft (Chrys.). „Es ist dem Menschen gesetzt, einmal zu sterben; danach aber folgt das Gericht“ (Hebr 9,27), heißt es im Brief an die Hebräer. Mit dem Tod ist für den Menschen die Zeit für Verdienst oder Missverdienst abgelaufen. Eine prinzipielle Änderung seiner Gesinnung und eine wesentliche Umgestaltung seines Loses finden nachher nicht mehr statt. Im Tode fällt die Entscheidung über das Schicksal des Einzelnen. Es wird nicht gesucht und mühevoll gefunden, sondern enthüllt, und zwar dadurch, dass der religiös-sittliche Zustand des Menschen von Gott unwiderruflich geoffenbart wird. Sofort nach dem Tode vollzieht sich die Vergeltung, und diese Vergeltung ist eine ewige. Dieser Vorgang trägt den Namen Gericht. Die Tatsache des besonderen Gerichtes ist Bestandteil des christlichen Glaubens. In dem Gericht offenbart Gott dem Menschen durch eine himmlische Erleuchtung seinen religiös-sittlichen Zustand und das diesem entsprechende ewige Los. Gottes allwissende Allmacht ruft ihm sein ganzes früheres Leben ins Gedächtnis zurück; jede Einzelheit seines Lebens steht in klarem Licht vor seinem geistigen Auge. Wir sind nicht unvorbereitet. Jesus hat uns vorausverkündigt: „Ich sage euch: Von jedem unnützen Wort, das die Menschen reden, werden sie am Tage des Gerichtes Rechenschaft geben“ (Mt 12,36). Die Sicht auf sich selbst begreift die Beurteilung seiner selbst in sich. So wird der Mensch sein eigener Richter. Er muss an sich jenes Gericht vollziehen, zu dem Gottes allwissende Allmacht ihn zwingt. Es wird dem Menschen nicht möglich sein, Gottes Urteil zu widersprechen. Er muss dessen Richtigkeit und Gültigkeit anerkennen. Er muss es aus innerer Einsicht annehmen.
Das Gericht, dem der Mensch sich im Tode unterwerfen muss, ist die Krönung aller jener Selbstgerichte, welche er während seines Lebens erfahren hat. In der Pilgerzeit richtet sich der Mensch durch den Spruch seines Gewissens. Im (echten) Gewissensspruch hält Gott über den Menschen Gericht. „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich; zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen“, heißt es in Goethes Drama „Tasso“. Der weise Pythagoras wies seine Schüler an: „Lass nicht den Schlaf sich auf die müden Augen senken, ehe du dein ganzes Tagewerk geprüft hast: Worin habe ich gefehlt? Was habe ich geleistet? Welcher Pflicht nicht entsprochen? Vom ersten Augenblick angefangen, geh alles durch. Hast du Ungehöriges getan, bereue es; hast du Gutes getan, freue dich dessen.“ Indem der Mensch sich dem Spruch des recht gebildeten Gewissens beugt, beugt er sich dem Urteil, der Verurteilung oder dem Freispruch Gottes. Während der Pilgerzeit vermag er jedoch die Stimme des Gewissens einzuschläfern. Er kann daher dem Gericht des Gewissens ausweichen. Eine besondere Weise himmlischen Gerichtes über den Menschen während der Pilgerzeit ist das Bußsakrament. In diesem Sakrament hält der himmlische Vater durch den Priester über den Sünder ein Gericht ab. Es wird hierbei jenes Gericht wirksam, welches Gott im Kreuzestode Christi über Christus abgehalten hat. Wenn alle Bedingungen von Seiten des Pönitenten erfüllt sind, bedeutet das Gericht des Bußsakramentes Freispruch (von der Schuld) und Vergebung. Der heilige Augustinus mahnt: „Der Mensch richte sich wegen seiner Sünden aus freien Stücken selbst, solange er noch kann, damit er nicht unfreiwillig vom Herrn gerichtet werde, wenn er nicht mehr (sich richten) kann.“ Das Buch von der Nachfolge Christi führt diesen Gedanken weiter, wenn es schreibt: „Bei allen Dingen bedenke das Ende, wie du einst vor dem strengen Richter dastehen wirst, dem nichts verborgen ist, der durch Geschenke nicht besänftigt wird, der keine Entschuldigung annimmt, sondern richtet nach Gerechtigkeit“ ( N Chr 1, 24,1). Die Gerichte, welche der Mensch im Lauf des Lebens über sich selbst abhält, oder an sich vollziehen lässt, sind Vorläufer jenes Gerichtes, das Gott nach dem Tode über ihn hält. In ihnen wird das Urteil Gottes in gewisser Hinsicht vorweggenommen, so dass das letzte Gericht zu einer Bestätigung der vorläuferischen Gerichte wird.
Der Maßstab, nach dem der Mensch gerichtet wird, ist die Heiligkeit, die Wahrheit und die Liebe Gottes selbst, ja die Wahrheit und die Liebe in eigener Person. Der Mensch wird gemessen und muss sich messen an der personhaften Wahrheit und Liebe. Nun ist die personhafte Wahrheit und Liebe in Jesus Christus erschienen. Darum ist dieser das Maß, nach dem der Mensch gerichtet wird. Nicht also die Zweckmäßigkeit oder der Nutzen, nicht die öffentliche Meinung oder die private Stimmung sind die Aspekte, unter denen sich das Schicksal des Menschen entscheidet. An diesem Maß gemessen, wird der Mensch vieles, was ihm während seines Lebens harmlos und gleichgültig erscheint, als schwerwiegend und verhängnisvoll erkennen, anderes, das ihm während seines Lebens wichtig und folgenschwer vorkommt, wird ihm belanglos und gleichgültig erscheinen. Nach dem Maße Gottes wird er sich nüchtern und wahrheitsgemäß, ohne Maske und ohne Illusion sehen. Er wird seiner selbst inne, wie er wirklich ist, nämlich in seiner Gottverbundenheit oder in seiner Gottlosigkeit. Der Mensch sieht und wertet sein Leben im letzten Gericht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Annäherung oder Entfernung von Gott. Diese aber wird durch Christus vermittelt, d.h. er misst sich unter dem Gesichtspunkt seiner Christusverbundenheit. Darum kann Christus der Richter genannt werden (Joh 5,22). Der Vater im Himmel hält durch Christus das Gericht ab.
In dem letzten Gericht über den Einzelmenschen offenbart sich nicht nur das religiös-sittliche Niveau des Menschen, sondern auch seine künftige Existenzweise. Es zeigt sich, in welchem Maße die Herrschaft Christi im einzelnen Menschen zum Durchbruch gekommen ist. Dem Maße, in dem sich in ihm die Liebe und die Wahrheit Gottes durchgesetzt hat, entspricht seine künftige Existenzweise. Wenn er sich der Liebe und der Wahrheit entzogen hat, und sich der Selbstsucht, der Eigenherrlichkeit und der Lüge überantwortet hat, wird ihm ein kümmerliches und schwaches Dasein zuteil. Die äußerste Form der Kümmerlichkeit und der Unfertigkeit nennen wir die Hölle. Die höchste Form der Beherrschung des Menschen durch die Wahrheit und durch die Liebe nennen wir den Himmel. Denn der Himmel ist die Lebensgemeinschaft des Menschen mit der unverhüllten Wahrheit und Liebe in eigener Person. Das im besonderen Gericht gefällte Urteil wird sogleich vollzogen. Es gibt keinerlei Aufschub. Die Vollstreckung des Urteils fällt mit dem Urteilsspruch zusammen. Der Mensch erkennt sich unmittelbar nach dem Tode im Lichte Gottes untrüglich als denjenigen, der er in den Augen Gottes ist, und ist darin selig oder verdammt.
Zunächst kann das nach dem Tode gefällte Urteil nur an der vom Leibe getrennten und ohne ihn weiterlebenden Seele vollstreckt werden. Der Geist verliert im Tode infolge der Veränderungen, die sich im Körper abspielen, die Macht, die körperliche Materie als Leib zu gestalten. Er hört auf, das Wesensgesetz des Leibes zu sein. Infolge seiner Verschiedenheit vom Leibe kann er jedoch über den Untergang des Leibes hinaus fortleben. Er existiert weiter als Geistperson. Diese Geistperson führt ein geheimnisvolles, unserer Erfahrung unzugängliches Leben. Der vom Leib getrennte Geist erhält nach dem Tode infolge göttlichen Eingreifens eine solche Seinsweise, dass er auch ohne Leib in der Welt der reinen Geister leben und sich betätigen kann. Die Fähigkeit, mit dem Leibe wiederum vereinigt zu werden, bleibt ihm erhalten. Die Fortexistenz und das Fortleben des leibfreien Geistes nach dem Tode bis zur Wiederkunft Christi ist sicher bezeugt. Im Buch der Weisheit werden wir belehrt: „Gott schuf den Menschen zu unvergänglichem Sein und machte ihn zu des eigenen Wesens Abbild.“ Bei seinem Abschied von dieser Erde betete Jesus: „Vater, ich will, dass die, die du mir gegeben hast, seien, wo ich bin, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast.“ Die Offenbarung von der Unsterblichkeit des Menschen geht jedoch hauptsächlich auf die Unsterblichkeit in leibhaftiger Wirklichkeit. Der christliche Unsterblichkeitsglaube begreift die Auferstehung des Leibes in sich. Insofern sind die Vollendeten des Himmels noch in einem unfertigen Zustand. Sie erwarten die Auferstehung des Leibes.
Gott hat nicht alle Tage Zahltag, aber er führt Rechnung und zahlt dann gleich auf einmal. Wir alle gehen unweigerlich dem besonderen Gericht Gottes entgegen; jeder Tag bringt uns ihm näher. Es empfiehlt sich, jeden Tag daran zu denken. Die Heiligen wussten um Gottes Gericht nach dem Tode, aber sie waren nicht voller Angst. Die heilige Theresia von Lisieux konnte sprechen: „Ich fürchte mich nicht vor Gottes Gericht, denn ich habe den zum Richter, den ich einzig geliebt habe.“ Was aber ist mit uns, die wir Gott so wenig geliebt haben? Wir unfertigen Menschen können nur mit Sorge an das besondere Gericht denken. Ein frommer Beter hat seine Empfindungen in Worte gefasst: „Weh’, was werd’ ich Armer sagen, welchen Anwalt mir erfragen, wenn Gerechte selbst verzagen.“ Uns bleibt nur die Anrufung der Barmherzigkeit Gottes. „König schrecklicher Gewalten, frei ist deiner Gnade Schalten, Gnadenquell, lass Gnade walten!“ Und es bleibt uns die Erinnerung an das, was Jesus für uns getan und gelitten hat. „Milder Jesus, wollst erwägen, dass du kamest meinetwegen, schleudre mir nicht Fluch entgegen. Bist mich suchend müd gegangen, mir zum Heil am Kreuz gehangen, mög dies Mühn zum Ziel gelangen.“ „Hast vergeben einst Marien, hast dem Schächer dann verziehen, hast auch Hoffnung mir verliehen.“ „Schuldgebeugt zu dir ich schreie, tief zerknirscht in Herzensreue, sel’ges Ende mir verleihe.“
Amen.