Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  
16. November 2008

Das Werden der menschlichen Persönlichkeit

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Die Kirche ist dazu von Christus gegründet worden, dass sie sein Erlösungswerk fortsetzt und den Menschen zuwendet. Der Mensch soll mit göttlichem Leben erfüllt werden, und dann soll er aus dieser Erfüllung die Welt gestalten. Ob der Kirche diese Aufgabe gelingt, daran entscheidet es sich, ob sie ihre gottgegebene Sendung erfüllt. Christliche Persönlichkeiten zu schaffen, das ist ihre Sendung. Und wenn das nicht gelingt, dann hat sie versagt.

Der Mensch ist Person, d.h. also ein Wesen, das mit einer Seele ausgestattet ist, das über Verstand und freien Willen verfügt. Aber aus der Person soll eine Persönlichkeit werden. Was ist der Unterschied? Nun, die Persönlichkeit ist die Verwirklichung der Person, ihr Ausbau, ihre Durchführung, ihre Vollendung. Viele Philosophen der Vergangenheit und der Gegenwart haben sich bemüht herauszufinden, worin die Persönlichkeit besteht. Und sie haben manches gefunden, was wir akzeptieren können. Wenn beispielsweise Theodor Adorno sagt, die Persönlichkeit sei dadurch ausgezeichnet, dass sie kritisches Bewusstsein und Rationalität gegenüber der Massengesellschaft beweist, dann können wir das akzeptieren. Kritisches Bewusstsein und Rationalität, also Vernünftigkeit gegenüber der Massengesellschaft, das ist nicht alles, was die Persönlichkeit ausmacht, aber etwas, was zu ihr gehört. In der Zeit des Nationalsozialismus traten Millionen Menschen – ich meine, es sind 18 Millionen gewesen – in die NSDAP, in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, ein. Das waren keine Bösewichte, nein. Sie passten sich nur an, um Ruhe zu haben. Nach dem Kriege, bei der Entnazifizierung, wurden sie als Mitläufer eingestuft. Und gerade das ist es: diese feige Anpassung, dieses geringe Widerstandspotential, das ist es, was den Wert der Persönlichkeit mindert. Daß man sich als Mitläufer der gängigen Meinung anpasst, dass man ein Fernsehgewissen hat, das macht den Menschen aus, der nicht zu einer Persönlichkeit heranwächst. Eine Persönlichkeit sein heißt, ein eigenes Urteil sich bilden, eine eigene Entscheidung fällen, ein Charakter sein.

Es ist auch nicht falsch, wenn Jürgen Habermas der Persönlichkeit die Kompetenz zur Teilnahme an der Kommunikationsgesellschaft zuspricht. Kompetenz, also Fähigkeit zur Teilnahme an der Kommunikationsgesellschaft, an der Gesellschaft, die eben miteinander kommuniziert. Wer etwas beiträgt zum Verstehen der Menschen, wer sich beteiligt an der Lösung der Aufgaben, der ist eine Persönlichkeit. Das ist nicht falsch. Wir sind aufgerufen, die Aufgaben, die Gott uns stellt, zu erfüllen.

Zunächst in der Schöpfung. Der Mensch ist ja die Krone der Schöpfung. Und die Persönlichkeit weiß um ihre Stellung in der Schöpfung. Sie weiß darum, dass sie ein Verfügungsrecht über die Dinge hat, das ihr der Schöpfer eingeräumt hat. Der Mensch besitzt Eigentumsrecht. Der Mensch besitzt einen Leib, für den er verantwortlich ist, den er einsetzen kann, den er einem anderen schenken kann in der Ehe. Der Mensch besitzt sein eigenes Geheimnis. Niemand darf unbefugt in das Innere eines Menschen eindringen. Der Mensch besitzt eine Überzeugung, die er sich erworben hat. Der Mensch besitzt ein Gewissen. Die Vorgänge in Hessen haben uns gezeigt, wie unsicher der Gewissensbegriff unter den Menschen ist. Die Menschen wissen nicht, was ein Gewissen ist. Sie wissen es nicht. Das Gewissen ist doch nichts anderes als die Empfangsstelle des Willens Gottes. Das Gewissen sagt mir, was Gott von mir in jeder Situation getan wissen will. Auch das Rasieren ist eine Gewissensentscheidung, natürlich. Alles, was der Mensch tut, ist vom Gewissen oder soll vom Gewissen bestimmt sein.

Der Mensch besitzt eine Ehre, einen guten Ruf, den ihm niemand ungestört entziehen darf. Der Mensch besitzt auch eine Freiheit, eine Freiheit, sich selbst zu bilden, und diese Freiheit soll er benutzen. Der Mensch, der von der Person zur Persönlichkeit werden will, muss unermüdlich an sich arbeiten.

Jeder von uns besitzt Anlagen, Kräfte des Geistes und des Körpers. Aber diese Anlagen sind uns gegeben, dass wir sie entwickeln, dass wir sie entfalten, dass wir sie vollenden. Von jedem von uns hat Gott ein Idealbild, und dieses Ideal sollen wir erreichen, diesem Ideal sollen wir nachstreben. Wir sollen alles, was Gott uns gegeben hat, zur größtmöglichen Entfaltung bringen. Wir sollen das Idealbild verwirklichen, das Gott seit Ewigkeit her von uns in sich trägt.

Man kann auch statt Persönlichkeit sagen: Charakter. Richtig verstanden, ist die Persönlichkeit ein Mensch mit einem Charakter. Den Charakter hat der Mensch nicht von vornherein, er muss sich ihn erwerben. Die Gründung des Charakters ist eine innere Umwandlung, die dem schwankenden Zustand der Triebe und der Begehrungen ein Ende macht. Einen Charakter erwerben heißt eine Wiedergeburt erleben. Wer Charakter hat, besitzt auch Prinzipien, Grundsätze, Maximen, nach denen er sein Leben gestaltet. Er ist kein schwankendes Rohr, sondern er steht da wie eine Säule. Er ruht auf seinen Prinzipien.

Das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist der sittlich schöne Charakter. Er wird gebildet durch die Ehrfurcht vor dem Heiligen, durch den Widerwillen gegen alles Unreine, Unzarte, Unfeine, durch die Liebe zum Reinen, Guten und Wahren. Wer eine edle Persönlichkeit geworden ist, verabscheut alles Schäbige, Gemeine, die böse Lust, die Rachsucht, die Schadenfreude, die Unehrlichkeit. Die edle Persönlichkeit herrscht über alle Lüste, über Schaulust, Gaumenlust, Geschlechtslust. Die edle Persönlichkeit besitzt ein stetes Pflichtbewußtsein. Sie bildet sich aus, ihren Charakter, und die Charakterbildung ist wichtiger als jede andere Bildung. Als die letzten Wahlen in Bayern waren, da wusste eine Zeitung zu melden, dass sich vor allem die sogenannten Gebildeten von der Christlich-Sozialen Union abgewandt hätten. Ich habe da meine Zweifel, und zwar aufgrund meiner Erfahrungen. Wer sind diese Gebildeten? Die mit Ach und Krach ein Abitur gemacht haben, die mit Ach und Krach ein Studium hinter sich gebracht haben, denen es aber häufig an Charakterbildung fehlt? Und Charakterbildung ist wichtiger als Geistesbildung.

Das ist also die Aufgabe, die uns als Persönlichkeiten gestellt ist: die eigenen Schwächen überwinden, die Sünden und die Neigungen zur Sünde überwinden, die Hauptsünden bekämpfen: Stolz, Zorn, Geiz, Neid, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, Trägheit. Tugenden erwerben, Fertigkeiten im Guten, rastlos an sich selbst arbeiten, dass wir demütige, vertrauensvolle, ehrliche und gütige Menschen werden. Ja, die Früchte des Geistes, wie sie Paulus im Galaterbrief aufzählt, die Früchte des Geistes erbringen: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Milde, Güte, Treue, Sanftmut, Mäßigkeit, Enthaltsamkeit, Keuschheit. Das ist unsere Aufgabe, meine lieben Freunde, diese Früchte zu erbringen, Persönlichkeiten zu werden, wie sie Gott sehen will.

Dazu gehört auch eine feste Lebensordnung. Der unvergessliche Mainzer Bischof Ketteler hat einmal im Jahre 1871 in seinem Fastenhirtenbrief geschrieben: „Nichts ist für den Menschen notwendiger als eine feste Lebensordnung, ein fester, bestimmter, wohlüberlegter Plan, nach dem wir unser tägliches Leben einrichten und unsere Pflichten erfüllen. Ohne solche Lebensordnung“, so fährt er fort, „hängt alles, was wir täglich Gutes tun, vom Zufall ab, von unseren Launen, von unserer Stimmung, von den wechselnden Einflüssen, von den äußeren Verhältnissen.“

Eine wesentliche Eigenschaft der edlen Persönlichkeit möchte ich noch eigens herausheben, nämlich den Ruf zur Nachkommenschaft. Der Mensch ist über sich selbst hinausgewiesen. Die edle Persönlichkeit ist gefordert. Sie soll sich über sich hinaus fortpflanzen. „Kinder sind eine Erweiterung der Persönlichkeit“, schreibt einmal der große Papst Leo XIII. Kinder sind eine Erweiterung der Persönlichkeit. Also ist es verwerflich, aus Feigheit, aus Faulheit, aus Bequemlichkeit auf die Ehe oder auf Kinder in der Ehe zu verzichten. Wer sich diesem Rufe Gottes entzieht, der kann keine edle Persönlichkeit werden. Im 2. Jahrhundert verfasste Justinus eine Verteidigungsschrift für die Christen gegen die Angriffe der Heiden. In dieser Verteidigungsschrift steht der Satz: „Wir Christen gehen grundsätzlich entweder die Ehe ein um der Kinder willen, oder wir verzichten auf die Ehe und leben enthaltsam.“ Was immer man auch sagen mag: Die Ehe ist um der Kinder willen eingesetzt. Und die Rede, dass Kinder ein Segen Gottes sind, ist unbestreitbar richtig. Jedes Kind, das geboren wird, bringt von Gott die Botschaft, dass er nicht an der Menschheit verzweifelt.

Gewiß, Kinder sind eine Last. Aber die Religion hilft diese Last tragen. Wer Gott im Hause hat, der bringt leichter zehn Kinder fort als einer, der Gott nicht im Hause und nur ein oder zwei Kinder hat. Kinder verlangen Entsagung, verlangen Opfer. Aber da gilt das Wort der rumänischen Königin Silva: „Wer sich in der Ehe nicht opfern will, wer sich für die Kinder nicht opfern will, der soll nicht heiraten.“

Die Persönlichkeit drängt es sodann, ihren Anteil zu leisten an der Wohlfahrt der Gesellschaft, des Volkes. Es drängt sie, ein Werk zu schaffen. Die Kultur ist ja die Frucht der Arbeit von Persönlichkeiten, oft von großen Persönlichkeiten, von Entdeckern und Erfindern, von Männern der Wissenschaft und der Technik. Dadurch unterscheidet sich der Mensch vom Tier. Das Tier baut seine Höhle oder sein Nest heute genauso wie vor 3000 Jahren. Da ist gar kein Fortschritt festzustellen. Der Mensch aber schreitet fort. Er entdeckt Neues, er schafft Neues, er setzt Werke in die Welt, die den Menschen zum Nutzen sind. Ich denke etwa an die großen Unternehmer. Ja, auch das muss einmal gesagt werden: Diese Arbeitgeber, die dem Volke dienende Werke schaffen, wie sind sie doch oft edle Persönlichkeiten, etwa ein Deichmann, der Inhaber der vielen Schuhgeschäfte, eine edle Persönlichkeit, der nicht nur die Bevölkerung mit Schuhen versorgt, sondern auch seine Angestellten mit höchster Achtung und Ehrfurcht behandelt. Und auch die Arbeitnehmer müssen wir preisen. Ich denke oft in Dankbarkeit an die Müllmänner. Was erweisen diese Männer, die diese schwere, schmutzige Arbeit verrichten, uns einen unermesslichen Dienst! Man muss an italienische Zustände denken, um zu begreifen, was passieren würde, wenn die Müllmänner ihren Dienst einstellen würden.

In der Arbeit verwirklichen wir uns selbst. In der Arbeit dienen wir der Gesellschaft. In der Arbeit leisten wir Gott den schuldigen Gehorsam. Für die Arbeit und für das Gebet, das zur Arbeit gehört und auch Arbeit ist, gelten drei Sätze: 1. Bete, als hülfe kein Arbeiten. Arbeite, als hülfe kein Gebet! 2. Laß deine Arbeit ein Gebet sein und dein Gebet eine Arbeit! 3. Willst du nicht arbeiten, so hilft auch kein Beten. Aus gemeinsamer Arbeit, aus dem Zusammenwirken aller Arbeitgeber und Arbeitnehmer entsteht ein Werk, wird das Volkswohl gefördert, wird das Volkstum erhalten. Aber das alles wird von der großen Klammer umfasst, nämlich dem Dienste Gottes. Die Persönlichkeit weiß, dass sie immer vor Gott steht. Ich wiederhole, was ich am Anfang sagte: Im Gewissen spricht immer Gott zu uns. Jede Handlung, ohne Ausnahme, muss eine Gewissensentscheidung sein, d.h. muss sich vor Gott rechtfertigen lassen. Unsinn, zu sagen, in der Politik komme es auf das Gewissen nicht an. Ja, da kommt es sehr wohl auf das Gewissen an. Es kommt bei allem Tun und Lassen auf das Gewissen an.

Wir stehen also vor Gott allezeit und ohne Ausnahme, bei Tag und bei Nacht. Und wir haben die Aufgabe, unser Leben und unser Werk dem Herrn zu weihen. „Ich weihe mein Werk dem König.“ Die vollendete Persönlichkeit weiß darum, dass sie betend und arbeitend vor Gott steht, dass sie ihre Lebensaufgabe nur erfüllt, wenn sie sie im Angesichte Gottes erledigt. Groß ist der Mensch schon in der Schöpfung als Person. Noch größer ist er in der Erlösung. Gott, du hast den Menschen wunderbar erschaffen, aber noch wunderbarer erneuert, nämlich durch die Annahme der Menschennatur in Christus. Durch diese Menschwerdung wird der Mensch fähig, das dreipersönliche Leben Gottes mitzuerleben. Er glaubt nicht nur an Gott, er gehorcht nicht nur Gott, nein, er ist in das Herz Gottes aufgenommen. Er ist tatsächlich ein Bruder Christi. Er ist tatsächlich ein Sohn oder eine Tochter Gottes, er ist tatsächlich ein Träger des Heiligen Geistes. Die wahre christliche Persönlichkeit lebt das übernatürliche Leben in Christus und bringt es in ihrem ganzen Tun zum Ausdruck. Gott mit der Zunge verherrlichen kann man nicht immer. Ihn durch das Leben verherrlichen, das kann man immer. Die Heiligkeit besteht nicht darin, dass man Außergewöhnliches unternimmt. Die Heiligkeit besteht darin, dass man das Alltägliche und Gewöhnliche gut im Namen Gottes vollbringt. Der unvergessliche große Apostel Berlins, Carl Sonnenschein, hat einmal den schönen Satz geschrieben: „Des Katholiken charakteristisches Zeichen soll sein, dass er die Religion lebt, nicht dass er von ihr redet.“

Die christliche Persönlichkeit weiß auch um den Dienst am Nächsten. Sie ist von der Nächstenliebe geprägt. Wir sind verbunden mit allen Menschen, und wir sind verantwortlich für sie. Wir müssen diese Verbundenheit pflegen. Die Heiden der ersten Jahrhunderte haben von den Christen gesagt: „Seht, wie sie einander lieben!“ Das war etwas Neues. Seht, wie sie einander lieben! Und der Bischof Ignatius, der im Jahre 107 in Rom den Löwen vorgeworfen wurde, schreibt in einem seiner Briefe, die römische Kirche sei die Vorsitzende des Liebesbundes. Also das ist die Kirche: nicht nur Bürokratie, nicht nur Amt, sondern Liebesbund. Und Paulus sagt von sich: „Die Liebe Christi drängt uns.“

Das muss das Motiv sein, weswegen man für Gott arbeitet, weswegen man den priesterlichen Dienst tut: Die Liebe Christi drängt uns. Das haben ja edle Persönlichkeiten aller Zeiten gewusst und getan. In der nächsten Woche werden wir das Gedächtnis der heiligen Elisabeth feiern. Diese edle Frau, die sich im Dienst des Nächsten verzehrt hat, leuchtet wie ein Fanal durch alle Jahrhunderte. Je mehr wir edle Persönlichkeiten sind, desto mehr können wir auch anderen nützen. Der Mensch dient nämlich dem anderen zunächst dadurch, dass er etwas ist, und erst danach, dass er etwas tut. Je mehr wir edle, vollkommene Persönlichkeiten sind, umso mehr können wir anderen nützlich sein. Es hat einmal einer gesagt: „Der Mensch vermag alles, was er vermag, durch seine Persönlichkeit.“ Das mag übertrieben sein. Aber es ist tatsächlich so: Das Beste, was ein Mensch für den anderen tun kann, ist darin gelegen, dass er etwas für ihn ist.

So stehen wir also, meine lieben Freunde, als Persönlichkeiten vor Gott und vor den Menschen. Wir wollen keine Mitläufer sein, wir sollen keine Massenmenschen werden, wir wollen uns nicht von der Weltanschauung des Fernsehers bestimmen lassen, sondern wir wollen aus dem Grunde der Religion emporwachsen, verbunden durch die Gnade mit dem dreifaltigen Gott, eingedenk unserer Pflichten und immer im Gehorsam gegen unser Gewissen Gott dienen und so auf diese Weise mithelfen, dass wir die Erlösung Christi in dieser Welt vollenden

Amen.

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