Predigtreihe: Gottes Macht und Größe (Teil 8)
14. Mai 2006
Die Formen des Betens
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Für den Menschen ist es eine heilige Pflicht und eine erhabene Freude, beten zu dürfen. Es ist ein Glück, zum Vater im Himmel das Herz erheben zu dürfen und ihn anzurufen, in herzlicher Freundschaft mit ihm verbunden zu sein. Wir haben am vergangenen Sonntag von der Gebetspflicht und der Gebetsweise gesprochen. Wir wollen heute erstens von den Gebetsformen und zweiten von den Gebetszeiten sprechen.
Erstens, die Gebetsformen. Es gibt vielfältige Weisen, wie man sein Herz zu Gott erheben kann. Der Mensch ist ja aus Innerem und Äußerem zusammengesetzt, und er kann innerlich, und er kann äußerlich beten. Natürlich ist gewünscht und verlangt, dass das Innere und das Äußere zusammenkommt. Aber das innerliche Beten ist die Seele des äußeren. Wer nur äußerlich betet, der hat wenig getan, aber wer nur innerlich betet, der hat viel getan. Das innerliche Beten, das stille innerliche Beten, also ohne dass wir die Lippen dabei bewegen, hat seine Wurzel darin, dass Gott in uns ist, dass wir uns in Gott bewegen, dass wir in ihm leben und dass wir in ihm sind. Wir tragen Gott in uns und sind sein heiliger Tempel. Deswegen können wir auch unser Herz zu Gott erheben, ohne dass wir die Lippen bewegen.
Die erste Weise, wie das stille innere Gebet vor sich geht, ist die Betrachtung. Wir Priester haben in den Jahren unserer Ausbildung oft und oft die Kunst der Betrachtung vorgestellt bekommen, um sie das ganze Leben zu üben, denn die Betrachtung ist für das Priesterleben unerlässlich notwendig. Ein Priester, der nicht betrachtet, ist schon halb verloren. Die heilige Theresia von Avila hat einmal das schöne Wort gesprochen: „Versprich mir, dass du jeden Tag eine Viertelstunde Betrachtung hältst, und ich verspreche dir den Himmel.“ So wichtig hat sie die Betrachtung genommen. Was ist die Betrachtung? Nun, die Betrachtung ist, wie der Name sagt, das Denken an bestimmte Geheimnisse des Lebens Christi, zum Beispiel an seine Menschwerdung. An dieser Betrachtung sind alle Kräfte der Seele beteiligt. Zunächst einmal die Phantasie. Man stellt sich den Stall von Bethlehem, die Hirten, die Engel, das heilige Paar vor. Dann bedenkt der Verstand, was das bedeutet: Der Herr des Himmels und der Erde ist herabgestiegen; er ist ein Mensch geworden, hat Fleisch angenommen, um unter uns zu wohnen. Dann muss die Seele anfangen zu glühen ob solcher Wohltat Gottes. Die Freude muss sich erheben, dass Gott für uns ein Mensch geworden ist, für uns, für uns und nur für uns! Und schließlich muss aus diesem Jubel über Gottes Großtat der Wille sich erheben, diesem Gott gerecht zu werden in einem Leben, das seinem Willen entspricht. Das nennt man Betrachtung. Diese Betrachtung ist deswegen so wertvoll, weil darin die Seele selber arbeitet, weil sie selber sich betätigt. Bei anderen Gebeten übernehmen wir nur das, was uns andere vorformuliert haben; hier beten wir aus originaler Kraft, aus ursprünglich seelischer Kraft.
Eine Stufe höher noch ist das beschauliche Gebet. Das beschauliche Gebet besteht darin, dass man einfach auf Gott hinschaut und nichts anderes tut, als seine Berührung zu empfangen. Das beschauliche Gebet hat beispielsweise der heilige Konrad von Parzham geübt. Er hat stundenlang das Kreuz in der Hand gehalten und nur auf den Herrn geschaut, und da sind ihm von selbst die Gedanken gekommen, die Gott wollte, dass sie dabei aufstehen. Das beschauliche Gebet ist eben ein Anschauen der Großtaten Gottes. Dabei wird man ergriffen und überwältigt von dem, was Gott für uns getan hat. „Beschauung ist der freie Blick des Geistes auf die göttliche Weisheit“, hat einmal der heilige Antonius von Padua gesagt.
Nicht jedem sind diese hohen Formen des Gebetes zugänglich. Aber eines können alle, nämlich sie können die geistliche Lesung üben. Geistliche Lesung besagt, dass man sich einen Text aus der Heiligen Schrift oder aus den Kirchenvätern oder aus einem frommen Buche vornimmt und ihn langsam durchkostend sich anzueignen versucht. Geistliche Lesung ist auch uns Priestern empfohlen und aufgetragen worden, das langsame, sinnende Lesen eines geistlichen Textes, beispielsweise des Buches von der Nachfolge Christi. Wer darin langsam und sinnend liest, dem geht der Geist auf, der erkennt, was die Texte sagen wollen und eignet sie sich an.
Noch einfacher ist es, tagsüber kleine Stoßgebete zu Gott zu richten. Die Heiligen haben es uns vorgemacht. Der heilige Franz von Assisi beispielsweise sprach immer nur: „Mein Gott und mein alles.“ Der heilige Franz Xaver hatte als Stoßgebet: „O selige Dreifaltigkeit.“ Diese Stoßgebete sind wie Flammen, die zum Himmel schlagen aus unserem Herzen, und das braucht ja gar keine lange Zeit, das braucht niemand zu bemerken. Das stört uns auch gar nicht bei unserer Arbeit. Wenn wir immer wieder solche Flammengebete zu Gott emporsenden: „Mein Jesus, Barmherzigkeit!“ oder: „Herz Jesu, ich vertraue auf dich“ und viele, viele andere Gebete, die wir uns aneignen können und die unser geistliches Leben befruchten. Wer oft und oft diese Stoßgebete verrichtet, dessen Herz wird nach und nach umgestaltet zur Nähe zu Gott.
Das ist das innerliche Beten. Daneben steht das mündliche Gebet, also jenes Gebet, das wir auch mit den Lippen verrichten. Natürlich muss jedes Gebet innerlich sein; jedes Gebet muss aus dem Herzen kommen. Aber wir brauchen auch das mündliche Gebet, wir brauchen auch mündliche Gebetsformen, vor allem, wenn wir gemeinsam beten. Und wir sind ja auch nicht immer schöpferisch und original, dass wir aus eigenem Herzen das Rechte finden. Und so halten wir uns an die Gebete, die andere formuliert haben, die uns von der Kirche übergeben sind. Dazu gehört an erster Stelle das liturgische Gebet. Meine lieben Freunde, uns Kindern wurde in frühem Alter das Messbuch, Schott genannt, in die Hände gegeben, und dieses Gebetbuch hat uns das ganze Leben begleitet. Denn in dem Schott-Gebetbuch sind alle Meßtexte des ganzen Jahres enthalten. Sie sind von einer Fülle und einem Reichtum, den wir bis zum Ende unseres Lebens nicht ausgeschöpft haben werden. Auch Sie sollten dieses Schott-Meßbuch sich aneignen, darin lesen, es immer mitbringen und es wie einen heiligen Schatz bewahren. Die Gebete, die die Kirche seit Jahrhunderten formuliert hat, die von einer Tiefe und von einem Reichtum sind, wie wir es uns kaum denken können. Das Messbuch ist ein wahrer Gebetsschatz.
Daneben gibt es das private Beten mit anderen Gebeten, die größere Menschen, als wir es sind, erfunden und formuliert haben. Ich denke zum Beispiel an den Rosenkranz. Der Rosenkranz, meine lieben Freunde, ist eines der schönsten und ergreifendsten Gebete. In ihm betrachten wir das Leben Jesu von seiner Ankunft auf dieser Erde bis zu seinem Scheiden am Kreuze, seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt. Und diese Betrachtung nehmen wir vor an der Hand Mariens. In 50 Ave Maria gehen wir das Leben Jesu durch und versuchen, uns in es zu versetzen, rufen auch immer flehentlich um Mariens Hilfe „jetzt und in der Stunde unseres Todes“. Die den Rosenkranz ablehnen, das sind gewöhnlich solche, die ihn nicht beten. Wer ihn jeden Tag betet, wie wir Priester es aufgetragen bekommen haben, der gewinnt dieses Gebet lieb. Kardinal Faulhaber hat es einmal genannt „das Gebet der Müden“. Ja, wahrhaftig. Wenn man andere, anstrengender Gebete nicht mehr verrichten kann, den Rosenkranz kann man auch noch beten, wenn man müde geschafft ist. Und er ist eine große Segensquelle. Wenn Sie einmal nach Rom kommen und die Sixtinische Kapelle betreten, da schauen Sie auf das große Bild, das Michelangelo gemalt hat, nämlich das Jüngste Gericht. Da sieht man zwei Auferstehende, die an der Kette des Rosenkranzes in den Himmel emporgezogen werden. Wahrhaftig, ein ergreifendes Bild für den Segen des Rosenkranzes. Die Kirche hat ein eigenes Rosenkranzfest eingeführt und einen eigenen Rosenkranzmonat, den Oktober. So gewichtig ist ihr dieses Gebet.
Ein zweiter ergreifendes mündliches Gebet ist der Kreuzweg. Die Christen, die nicht ins Heilige Land pilgern konnten, sollten einen Ersatz haben für den Besuch der Stätten des Leidens Jesu. Und so hat die Kirche eben Stationen gebildet, 14 Stationen, die den Leidensweg des Herrn abbilden. Wir haben ja in diesem Gotteshaus hinten diese meines Erachtens ergreifenden Bilder des Kreuzweges. Wir gehen von Station zu Station, stellen uns vor, und die Bilder machen es ja eindringlich, was der Herr gelitten hat, für uns gelitten hat, und beten: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und benedeien dich, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ Und immer wieder, bei jeder Station, wiederholen wir das und flehen auch: „Ach laß dein Blut und deine Pein an uns doch nicht verloren sein.“ Und schließlich gehen wir unseren Weg auch an der Hand Mariens und sagen: „Heilige Mutter, drück die Wunden, die dein Sohn für uns empfunden, tief in unsere Seelen ein.“ Ich empfehle Ihnen, meine lieben Freunde, oft den Kreuzweg zu beten. Dazu braucht man nicht in die Kirche zu gehen, das kann man auch zu Hause anhand eines Gebetbuches tun. Der Kreuzweg, die Kreuzwegandacht, das Kreuzweggebet ist von einem ganz großen Segen begleitet.
Es gibt noch andere Gebete, die wir gern beten sollten, zum Beispiel die Litaneien. Litaneien sind Wechselgebete. Sie bestehen aus einer Anrufung und einer Bitte. „Heiligstes Herz Jesu, erbarme dich unser!“ „Muttergottes, bitte für uns!“ Die Litaneien sind deswegen so schön, weil sie bei jeder Anrufung uns eine andere Seite, sei es des Heilandes, sei es des Heiligen oder der Muttergottes, zeigen. Und „bitte für uns“ – das kommt uns doch aus dem Herzen, denn wir haben zahllose Anliegen, die wir Gott und seinen Heiligen vortragen wollen. Ein weiteres schönes Gebet, das wir nicht auslassen sollten, ist der Engel des Herrn. Immer wenn die Glocke uns daran erinnert, dass Christus, der Sohn Gottes, Mensch geworden ist, dann sollten wir den Engel des Herrn beten. „Der Engel des Herrn brachte Maria die Botschaft, und sie empfing vom Heiligen Geiste.“ In der Osterzeit ist das Gebet etwas anders, da erinnern wir uns an den Jubel, den Maria empfunden hat, als ihr Sohn aus dem Grabe erstand: „Freu dich, du Himmelskönigin, freu dich, Maria. Freu dich, das Leid ist alles hin. Bitt Gott für uns, Maria.“ Das sind ein paar Beispiele von Gebeten. Aber es gibt noch viele, viele andere. Manche unter Ihnen haben den „Gebetsschatz“ von dem Pfarrer Weigl, der ja sehr zu empfehlen ist, und beten daraus. Und noch vielen anderen Gebetbüchern kann man Gebete entnehmen, um sie Gott darzubieten.
Das sind die Gebetsformen. Jetzt zweitens kommen die Gebetszeiten. Das ganze christliche Leben soll ja vom Gebet umrahmt sein. Es soll in die Gegenwart des großen Gottes hineingestellt werden, und deswegen soll sich schon am Morgen unser Herz zu Gott erheben. Wenn der neue Tag erwacht, soll sich die Seele zu Gott emporschwingen, um ihn anzubeten: „Zu dir erwach ich, liebster Gott.“ Wir zeichnen das Kreuz der Erlösung über uns, wenn wir aufstehen. Wir sprechen unser Morgengebet: „O Gott, du hast in dieser Nacht so väterlich für mich gewacht. Ich lob und preise dich dafür und dank für alles Gute dir.“ Und so geht es weiter. Dann machen wir die gute Meinung: „O Gott, laß mich diesen Tag bei dir verbringen für deine größere Ehre, zum Heil meiner Seele und zum Segen für alle Menschen.“ Niemals vergessen, meine lieben Freunde, am Morgen die gute Meinung zu erwecken. „Laß mich diesen Tag bei dir verbringen zu deiner größeren Ehre, zum Heile meiner Seele und zum Segen für die übrigen Menschen.“ Dann erneuern wir unseren Vorsatz, den wir bei der Beichte gefasst haben und wenn es möglich ist, besprengen wir uns mit Weihwasser, erinnern uns daran, dass wir Getaufte sind, die Gott in seine Herrlichkeit aufgenommen hat.
Tagsüber sollen wir mit Gott wandeln. Wir sollen in Treue mit Gott zusammenwirken. „Alles, was ihr tut, in Wort oder Werk, tut alles im Namen Jesu Christi“, sagt der Apostel. Alles, was ihr tut in Wort oder Werk, tut alles im Namen Jesu Christi. Wie macht man das, dass man mit Gott und in seiner Gegenwart wandelt? Nun, indem man immer wieder an Gott denkt, indem man sich immer wieder erinnert: Gott ist bei uns, ist mit uns, ist in uns, und dass wir dann einen kurzen Gruß ihm zuschicken: „O mein Gott und du mein alles, ich weihe dir mein Leben, ich weihe dir diese Stunde, ich weihe dir meine Arbeit, ich weihe dir meine Tränen.“ Und dass wir Stoßgebete emporschicken und mit Gott reden. Es kommt nicht so sehr auf die Zahl als vielmehr auf die Innigkeit und die Innerlichkeit an, und dass wir die unvermeidlichen Schwierigkeiten, Unpässlichkeiten, Opfer des Tages Gott anbieten als Gruß der Liebe, dass wir uns, wenn es schwer wird, daran erinnern: Ich wollte doch alles für Gott wirken. „Mein Gott, mein Jesus, dir zuliebe.“ Wenn es uns schwer wird, dann immer an Gott denken, und dann können wir unser Leben fruchtbar gestalten.
Es ist eine uralte christliche Sitte, das Tischgebet zu verrichten. Auch hier werden wir ja vom Apostel gemahnt: „Ihr möget essen oder trinken, tut alles zur Ehre Gottes!“ Ihr möget essen oder trinken, tut alles zur Ehre Gottes. Der Herr hat das Letzte Abendmahl im Kreise seiner Jünger mit Gebet umgeben. Er lehrt uns, täglich um unser Brot bitten. Und deswegen ist es christliche Sitte, auch beim Essen zu beten. Die sichtbaren Gaben, die wir auf dem Tische haben, deuten auf den unsichtbaren Geber der Gaben, und deswegen sollen wir dankbar sein und vor und nach Tisch beten. In der Hitlerjugend, meine lieben Freunde, hat man offenbar die Notwendigkeit empfunden, auch einen Spruch vor das Essen zu setzen, natürlich kein Gebet, denn Gebet war verboten. Aber ein Spruch. Ich erinnere mich an einen Spruch: „Es isst der Mensch, es frisst das Pferd, doch heute sei es umgekehrt. Alle Mann ran!“ Ein so erbärmliches Sprüchlein wurde vor dem Essen in der Hitlerjugend „gebetet“. „Es isst der Mensch, es frisst das Pferd. Doch heute sei es umgekehrt.“ Wie erbärmlich! Nein, wir haben so schöne Tischgebete: „Aller Augen warten auf dich, o Herr, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit.“ Oder: „O Gott, von dem wir alles haben, wir preisen dich für deine Gaben. Du speisest uns, weil du uns liebst. O segne auch, was du uns gibst!“ Das dauert zehn Sekunden, und diese zehn Sekunden sollten wir wirklich übrig haben.
Und dann naht sich allmählich der Abend und damit unser Abendgebet. Wir wollen noch einmal vor das Angesicht Gottes treten, eine kurze Gewissenserforschung halten: Was war gut, was war schlecht am heutigen Tage? Danken für Gottes Gaben, bereuen, was uns misslungen ist, prüfen, ob wir unseren Tagesvorsatz gehalten haben und dann uns empfehlen in den väterlichen Schutz Gottes, in die Fürbitte Mariens und der Heiligen. Es gibt Christen, und das ist richtig, die jeden Abends Liebesreue erwecken, die Reue also, die im Augenblick die Sünden tilgt, wenn sie mit dem Wunsch und dem Entschluß verbunden ist, sobald wie möglich die Sünden zu beichten. Ich traf einmal in München einen alten Pfarrer, der sagte mir: „Jedesmal, wenn ich in der Nacht aufwache, bete ich die Liebesreue.“ Wie schön, meine lieben Freunde, dies zu tun, um eben gewappnet zu sein, wenn der Herr uns heimruft.
So zieht sich das Gebet durch das ganze Tagewerk, und so erfüllen wir die Weisung des Herrn: „Betet allezeit!“ Durch das Gebet heiligen wir den Alltag. Durch die heilige Messe heiligen wir die Woche. Durch die Feste und Sonntage des Kirchenjahres heiligen wir das ganze Jahr. Wir beten zu Gott, weil wir nicht stumm bleiben dürfen vor unserem Schöpfer. Wir beten zu ihm, weil im Gebet sich unsere Seele zu ihm erhebt. Wir beten, weil wir dadurch mit Gott in Gemeinschaft treten.
Amen.