24. Juli 2022
Die helfende Gnade oder Gnade des Beistandes
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
In der Kirche wird viel von der Gnade geredet. Aber wissen auch alle, die das Wort gebrauchen, um seinen Inhalt? In der Theologie bezeichnet Gnade eine aus ungeschuldetem Wohlwollen Gottes verliehene Gabe; jede übernatürliche Gabe, die Gott einem vernünftigen Geschöpf zur Erlangung des ewigen Heils verleiht. Innerhalb der Gnade ist zu unterscheiden zwischen der helfenden, aktuellen Gnade oder Gnade des Beistandes und der heiligmachenden Gnade. Am heutigen Sonntag wollen wir uns kundig machen über die helfende, aktuelle Gnade, die Gnade des Beistandes. Die helfende, aktuelle Gnade oder Gnade des Beistandes ist jene innere, übernatürliche Beihilfe, die Gott dem Menschen in der Weise einer vorübergehenden Gabe zum heilskräftigen Handeln verleiht. Ihre Existenz ist definierte Glaubenswahrheit (D 180, 797f.). Teils erleuchtet sie den Verstand (2 Kor 3,5; Eph 1,17), teils stärkt sie den Willen (Joh 6,44; Phil 2,13). Gott gibt uns die helfende Gnade, damit wir das Gute tun und das Böse meiden können. Zu der Gnade des Beistands zählen jene innerlichen Ermahnungen und Einladungen, die unseren Geist und unser Herz anregen. Gott spendet sie durch seinen Heiligen Geist. Die Gnade des Beistands hat folgende Eigenschaften: 1. Sie ist notwendig für alle die Rechtfertigung vorbereitenden übernatürlichen Heilsakte (D 179, 813). Rechtfertigung ist die Versetzung aus der Sünde in den Gnadenstand, also die Bekehrung zu Gott, die Aufnahme in sein göttliches Leben, die Begabung mit der heiligmachenden Gnade. Durch die natürlichen Kräfte der Seele allein können wir nicht glauben und nicht die Gebote halten, wie Gott es will. Noch viel weniger können wir uns von Sünden freimachen. Deswegen schenkt uns Gott die Gnade. Durch sie können wir mehr tun als durch unsere eigene Kraft allein. Mit der Gnade können wir alles tun, damit wir in den Himmel kommen. Ohne Gnade des Beistandes kann auch der Gerechtfertigte keinen Heilsakt vollziehen oder sich zeitlebens aller Sünden enthalten (D 192, 132). Es bedarf sogar eines ganz besonderen Gnadenbeistandes, um das ganze Leben hindurch jede lässliche Sünde meiden zu können (D 833). „Auch die Wiedergeborenen und Heiligen müssen stets den Beistand Gottes anflehen, um zu einem guten Ende zu gelangen oder in den guten Werken ausharren zu können“ (D 183). Daher wird die Beharrlichkeit bis zum Ende als „großes Geschenk“ Gottes betrachtet (D 820). Doch gilt anderseits, „dass alle Getauften durch die in der Taufe empfangene Gnade mit der Beihilfe und Mitwirkung Christi das, was zum Heile gehört, wenn sie treulich sich anstrengen wollen, erfüllen können und müssen“ (D 200).
2. Die Gnade des Beistandes ist unverdienbar. Durch kein nur natürlich gutes Werk kann man die Gnade des Beistandes (im eigentlichen oder uneigentlichen Sinne) verdienen (D 191, 797) noch durch ein natürliches Bittgebet erflehen. Vielmehr bewegt die Gnade selbst, dass wie sie erflehen (D 176). Die Berufungsgnade ist gänzlich ungeschuldet. Gott schenkt sie aus freiem Entschluss seiner Liebe. „Die Gnade kommt dem, der nicht will, zuvor, dass er wolle. Die Gnade folgt dem, der will, dass sein Wollen nicht vergeblich bleibe“ (Aug.).
3. Der Heilige Geist nötigt uns nicht, sondern lässt uns die vollständige Freiheit. Der Heilige Geist ist ein von Gott ausgehendes Licht. Diesem Licht kann man sich öffnen, aber auch vor ihm die Augen verschließen. Dem Rufe Gottes beistimmen oder nicht, ist Sache des eigenen Willens. Gott wirkt in uns nicht so, als ob wir leblose Steine wären. Gott achtet die Freiheit des Menschen. Er zerstört sie auch dann nicht, wenn sie der Mensch zu seinem Verderben gebraucht. Der Mensch kann daher mit der einwirkenden Gnade mitwirken oder ihr widerstehen. Die Leute, welche am Pfingstfest die Apostel verspotteten und sie für betrunken hielten, widerstanden der Gnade. Ebenso jene, die den hl. Paulus verlachten, als dieser am Areopag zu Athen das Evangelium verkündete und von der Auferstehung der Toten sprach. Denken wir an Luther auf der Wartburg. Woher kamen jene Gedanken, die Luther für Einflüsterungen des Teufels hielt, wie z.B. die Fragen: Wer hat dich gesandt? Bist du allein weise? In den vom Heiligen Geist durchherrschten Personen ging eine plötzliche innere Umwandlung vor sich. Sie konnten mit dem hl. Cyprian sprechen: „Als der Heilige Geist in meine Seele kam, wandelte er mich auf einmal in einen anderen Menschen um.“ Der Heilige Geist wirkt bei verschiedenen Anlässen auf uns ein, namentlich bei der Predigt, beim Anblick guter Beispiele, beim Lesen guter religiöser Bücher, bei Krankheiten, bei Todesfällen, bei Belehrungen durch andere. Der heilige Konrad von Parzheim hatte ein wunderbares Auge. Wen er anschaute, konnte seinen Blick nicht vergessen. Ein Priester in der St. Anna-Kirche in Altötting saß im Beichtstuhl. Da kam ein verwahrloster Bursche herein und weinte bitterlich. Vor lauter Schluchzen konnte er kein Wort herausbringen. Als der Priester ihn anredete, „was fehlt denn?“, gab er zur Antwort: „Ich bin der größte Sünder der Welt.“ „Ja, wie bist du denn jetzt in den Beichtstuhl hereingekommen?“ „Ich habe mir bei dem alten Kapuziner an der Pforte ein Stück Brot erbettelt, und da hat er mich angeschaut, und das ist mir durch Mark und Bein gegangen.“ So bedient sich der barmherzige Herr oft eines Menschen, um Sündern Gnaden zu vermitteln und durch sie ihre Bekehrung zu erwirken. Wer sich der einwirkenden Gnade ständig widersetzt und auch der einwirkenden Gnade widerstehend stirbt, begeht eine schwere Sünde wider den Heiligen Geist; diese kann nicht verziehen werden. Eine katholische Frau lebte in gemischter Ehe. Alle ihre Kinder hatte sie protestantisch werden lassen. Jahrzehntelang hatte sie keine Sakramente mehr empfangen. Der Priester redete ihr zu, ihren Fehler gutzumachen und ihr Leben in Ordnung zu bringen. Sie versprach ihm, zur Kirche zu kommen. Aber sie kam nicht. Der Priester bestellte sie wiederholt, suchte sie auf, ohne Erfolg. So starb sie; aus dem „später“ war ein „zu spät“ geworden. Wer mit der einwirkenden Gnade mitwirkt, erlangt noch größere Gnaden. Wer ihr aber widersteht, verliert alle übrigen Gnaden und hat ein strenges Gericht zu erwarten. Glücklich ist, wer mit der Gnade mitwirkt. Wer die erste Gnade benützt, zieht eine ganze Kette von Gnaden nach. Unglücklich, aber, wer der Gnade widersteht. Welch furchtbares Gericht kam im Jahre 70 n. Chr. über Jerusalem, welches den Tag der Heimsuchung, d.h. der Gnade, nicht erkannt hatte (Lk 19,41). Auf den, der die Gnade zurückgestoßen hat, beziehen sich die Worte Christi: „Den unnützen Knecht werfet hinaus in die Finsternis; da wird Heulen und Zähneknirschen sein“ (Mt 25,30). Die Säumigen pflegt Gott zu verlassen. Wenn wir es versäumen, einen guten und schnellen Gebrauch von der einwirkenden Gnade zu machen, entzieht uns Gott diese Gnade. Das ist die Strafe für unsere Nachlässigkeit. Je größer die einwirkenden Gnaden waren, um so größer wird unsere einstige Verantwortung sein. Christus sagt: „Wem viel gegeben wurde, von dem wird auch viel gefordert“ (Lk 12,48). Über dem Tor der Hölle steht die Inschrift: Wir wiesen des Ewigen Ruf zurück und lebten als sündige Toren. Wir waren geladen zum Himmelsglück, nun haben wir alles verloren. Vorbei ist die Zeit und vorbei ist die Gnad’, vorbei ist der Tag unseres Lebens. O dreh’ dich zurück, du schreckliches Rad. Doch jammern wir ewig vergebens.
4. Die Gnade des Beistands wird allen Menschen gegeben. Die Allgemeinheit der Gnade des Beistandes widerspricht ihrer Unverdienbarkeit nicht. Sie ist mit dem allgemeinen Heilswillen Gottes gegeben (D 827, 318). Darum gilt es als häretisch, zu behaupten, es sei für den gerechtfertigten Menschen unmöglich, die Gebote Gottes zu halten. Denn Gott befiehlt nichts Unmögliches und hilft, dass man vermag (D 804). Ebenso ist häretisch, dass die nach die Taufe Gefallenen nicht wieder durch Gottes Gnade aufstehen könnten (D 839). Gott bietet auch den Verstockten seine Gnade an (Is 65,2; Apg 7,51; Röm 2,4f.). Die Allgemeinheit des göttlichen Heilswillens schließt in sich, dass Gott auch den Irrgläubigen und Heiden, die ohne Schuld die wahre Religion nicht kennen, hinreichende Gnade darbietet, so dass keiner ohne eigene Schuld verloren geht. Vielmehr kann jeder, der Gott zu gehorchen bereit ist und ein ehrbares und rechtes Leben führt, durch die mächtig wirkende göttliche Erleuchtung und Gnade das ewige Leben erlangen (D 1677).
Der Heilige Geist wirkt auf jeden einzelnen Menschen ein: sowohl auf die Sünder, als auch auf die Gerechten, sowohl auf die katholischen Christen, als auch auf Andersgläubige und Ungläubige. Christus erleuchtet einen jeden Menschen, der in diese Welt kommt (Joh 1,8). Gott will, dass alle Menschen selig werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen (1 Tim 2,4). Wer verloren geht, geht durch eigene Schuld verloren. Der Heilige Geist hat auch die Patriarchen und Propheten erleuchtet. Gott hat in Anbetracht der künftigen Genugtuung des Erlösers den im Alten Bunde lebenden Menschen seine Gnade gespendet. Die Patriarchen sind die Stammväter des auserwählten Volkes. Gott bediente sich ihrer bei der Führung des Volkes Israel. Die Propheten sind die charismatischen Organe der Offenbarung im Alten Testament, Wortkünder Jahwes und Träger des Wortes zwischen Gott und den Menschen.
Der Heilige Geist war von Anbeginn der Erde zum Heil der Menschen tätig. In reichlicherem Maße kam er mit dem Pfingstfest in die Welt. Als die Juden zu Babylon in der Gefangenschaft waren, wirkte der Heilige Geist oft auf die Heiden ein. Gott wirkte viele Wunder zur Verherrlichung seines Namens, so bei der Befreiung der drei Jünglinge im Feuerofen und des Daniel in der Löwengrube. Wir dürfen zuversichtlich annehmen, dass der Heilige Geist gute und gerechte Männer im alten Griechenland erleuchtet und belehrt hat. Man denke an Sokrates. Er lehrte das Dasein eines einzigen Gottes und wurde deswegen im Jahre 399 v. Chr. zum Tode verurteilt. Ihm an die Seite stellen kann man andere edle heidnische Männer. Es sei an Seneca und Epiktet, die beiden bedeutenden stoischen Philosophen erinnert. Klemens von Alexandrien bezeichnete die Philosophie als „eine den Griechen von Gott verliehene Gabe“ und tat den Ausspruch: „Es erzog die Philosophie die griechische Welt wie das Gesetz die Hebräer auf Christus hin.“
5. Der Heilige Geist teilt nicht allen Menschen gleich viel Gnaden mit. Am reichlichsten spendet er sie Gliedern der katholischen Kirche. Der eine Knecht empfängt fünf, der andere zwei Talente, der dritte nur ein Talent (Mt 25,15). Das jüdische Volk empfing mehr Gnaden als die Heiden. Die Städte Chorazin und Bethsaida empfingen mehr Gnaden als Tyrus und Sidon, Kapharnaum mehr als Sodoma (Mt 11,31). Es gibt allgemeine Gnaden, an denen alle Menschen ohne Unterschied teilnehmen. Es gibt aber auch besondere Gnaden, die Gott nur wenigen Seelen verleiht, und zwar solchen, die von Gott zu etwas Besonderem bestimmt sind. Maria war die Gnadenvolle, die Gnade gefunden hatte bei Gott. Elisabeth wurde von heiligem Geist erfüllt, als Maria sie besuchte. Auch ihr Mann Zacharias empfing den Heiligen Geist. Über dem greisen Simeon waltete ebenfalls der Geist Gottes.
6. Einwirkende Gnaden erlangt man durch Verrichtung guter Werke, insbesondere durch Beten, Fasten und Almosengeben. Ferner durch Gebrauch der Gnadenmittel der Kirche, insbesondere durch Mitfeier des hl. Messopfers, durch Anhören der Predigt, durch würdigen Empfang der Sakramente. Der Heilige Geist wirkt nicht beständig auf den Menschen ein, sondern nur von Zeit zu Zeit. Daher ruft Paulus den Christen zu: „Jetzt ist die gnadenreiche Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heiles“ (2 Kor 6,2). Die Fastenzeit ist eine solche gnadenreiche Zeit, ebenso die Zeit der Volksmission. Man muss besorgt sein, wenn man die Zeit der Gnade unbenutzt verstreichen lässt. Der hl. Augustinus sagte: „Ich fürchte mich, wenn Jesus an mir vorübergeht.“ Eine der wertvollsten Litaneien unserer Kirche ist die Litanei vom heiligsten Namen Jesu. Darin kommt die Anrufung vor: Von der Vernachlässigung deiner Eingebungen erlöse uns, o Herr. Der Heilige Geist teilt die Gnaden aus, wie er will (1 Kor 12,11), aber auch je nach Vorbereitung und Mitwirkung des einzelnen (CTr 6,7). Daher kommt es, dass der mehr einwirkende Gnaden erlangt, der mehr gute Werke verrichtet. Insbesondere wissen wir, dass sehr wirksam ist das Gebet zum Heiligen Geist. Denn der Vater im Himmel gibt den guten Geist jenen, die ihn darum bitten (Lk 11,43). Ebenso wirksam ist das Gebet zur Mutter Gottes; denn Maria ist „voll der Gnade“ und Ausspenderin der göttlichen Gnaden. Auch die Anbetung des Herrn im Altarsakrament bringt uns viele Gnaden. Desgleichen die Zurückgezogenheit von der Welt oder die Einsamkeit, wo Gott zu unserem Herzen redet (Hos 2,24), und die Abtötung der äußeren Sinne (Unterdrückung der Neugier, Vermeidung überflüssigen Geredes) sind vorzügliche Mittel, um einwirkende Gnaden zu erlangen. Es kommt darauf an, zu hören, was der Heilige Geist, der in uns lebt, zu uns spricht. „Ganz leise spricht ein Gott in unserer Brust, ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an, was zu ergreifen ist und was zu fliehen“ (Goethe, Tasso). Der heilige Paulus schreibt an die Hafenarbeiten und Handwerker von Korinth: „Wir mahnen euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfanget“ (2 Kor 6,1). Das Messbuch enthält ergreifende Gebete um die Gnade des Beistandes. Deine Gnade möge uns allezeit vorangehen und nachfolgen und uns unablässig zu guten Werken aneifern. Wir bitten dich, Herr, erhelle unseren Geist mit dem Licht deiner Klarheit, damit wir sehen können, was zu tun ist, und auszuführen vermögen, was recht ist. Wir bitten dich, Herr, komm unserem Tun mit deinen Eingebungen zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, auf dass all unser Beten und Handeln stets von dir begonnen und, wie begonnen, so auch durch dich vollendet werde.
Amen.