Die Wahrheit verkündigen,
den Glauben verteidigen

Predigten des H.H. Prof. Dr. Georg May

Glaubenswahrheit.org  

Predigtreihe: Die Gnadenlehre (Teil 3)

5. Juni 1988

Die Notwendigkeit der Gnade zum Heil

Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Geliebte im Herrn!

Wir hatten uns vorgenommen, die subjektive Erlösung an den folgenden Sonntagen zu betrachten. Subjektive Erlösung heißt Zuwendung der objektiven Erlösung, die im Heilswerk Christi geschehen ist, an den einzelnen Menschen, Aneignung der Erlösungsfrucht. Die Erlösungsfrucht ist die Gnade Jesu Christi. Die Haupteinteilung der Gnade war die in die heiligmachende und in die helfende Gnade. Wir haben begonnen, uns mit der helfenden Gnade auseinanderzusetzen. Wir wollen am heutigen Sonntag etwas über die Notwendigkeit der helfenden Gnade nachdenken. Dieses Nachdenken wollen wir in drei Sätze fassen, nämlich

1. Zu jedem heilswirksamen Akt ist die innere übernatürliche Gnade notwendig.

2. Zum Anfang des Glaubens und des Heiles ist die innere übernatürliche Gnade absolut notwendig.

3. Auch zu jedem Heilsakt des Gerechtfertigten ist die Gnade notwendig.

Der erste Satz lautet: Zu jedem übernatürlichen Heilsakt, also zu jedem guten Werk, das Frucht tragen soll für den Himmel, ist die innere übernatürliche Gnade notwendig.

Daß diese Lehre so deutlich herausgestellt wurde, verdanken wir gewissermaßen einem Irrlehrer, nämlich dem irischen Mönche Palagius. Dieser Mann, der ein sehr sittenstrenger und ein sehr frommer Mann war, glaubte, er könne das Heil durch den eigenen Willen, durch die eigene Anstrengung allein erwerben, und dagegen haben sich nun die Lehrer der Kirche, die großen Theologen, die rechtgläubigen Bischöfe und die Konzilien schon der frühen Zeit ausgesprochen. Wichtig ist hierbei vor allem das Konzil von Orange in Südfrankreich aus dem Jahre 529. Es hat die Irrlehre des Pelagius, den Pelagianismus, zurückgewiesen und die katholische Lehre lichtvoll vor die Menschen hingestellt. Dieses Konzil sagt zum Beispiel: Wenn wir Gutes wirken, dann wirkt Gott in uns und mit uns, daß wir es wirken. Ich wiederhole noch einmal diesen wichtigen Satz: Wenn wir Gutes wirken, dann wirkt Gott in uns und mit uns, daß wir es wirken. Also das Wirken des Guten ist gewissermaßen ein Zusammenwirken von Gott und Mensch, von der Gnade in der Seele und vom freien Willen, wobei die Priorität eindeutig bei Gott liegt.

Damit hat das Konzil keine neue Lehre verkündet, sondern es hat nur aufgegriffen, was im Neuen Testament grundgelegt ist. Vor allen Dingen kommt hier das Evangelium nach Johannes in Frage. Im 15. Kapitel dieses Evangeliums heißt es: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ Weinstock, das ist die Pflanze, Reben, das sind die Zweige. „Wer in mir bleibt, und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht, denn getrennt von mir vermögt ihr nichts zu tun.“

Das Beispiel ist klar. Nicht wahr, ohne den Weinstock, ohne den Stamm sind die Zweige verloren. Wie sollen sie denn Frucht tragen, wenn der Stamm nicht in Ordnung ist, wenn nicht der Saft aus dem Stamm hochsteigt in die Zweige? Der Stamm ist ja die Lebenskraft der Zweige. Und das ist ein Hinweis darauf, daß wir heilswirksam Gutes nur tun können in der Kraft Gottes. „Ohne mich könnt ihr nichts tun,“ sagt der Herr. Nichts! Er sagt nicht: wenig, sondern er sagt: nichts! Und der Apostel Paulus drückt dasselbe aus, wenn er vom Haupt und von den Gliedern spricht. Das Haupt ist Christus. Ohne Haupt kann ein Leib nicht existieren, und vom Haupte geht als gewissermaßen der Steuerungszentrale die Kraft und die Tätigkeit auf die Glieder über. Also er sagt dasselbe mit anderen Worten wie Johannes und wie es eben die Lehre der katholischen Kirche ist: Heilswirksam können wir nur Gutes tun, wenn die Gnade in uns ist.

Der zweite Satz lautet: Auch der Anfang des Glaubens und des Heiles bedarf des Einflusses der übernatürlichen inneren Gnade. Auch hier hat das genannte Konzil von Orange festgestellt, es sei den Lehren der Kirche zuwider, wenn einer meint, er könne selber, aus eigener Kraft zum Glauben kommen. Die Glaubensentscheidung bleibt gewiß eine freie Entscheidung des Menschen. Er wird nicht gezwungen von der Gnade, aber die Gnade trägt seine freie Entscheidung ja, die Gnade ermöglicht sie. Auch in der freien Entscheidung des Menschen ist die Gnade nicht ausgeschlossen, und wenn die Gnade wirkt, wird dadurch seine Freiheit nicht aufgehoben, sondern garantiert. Also auch daß wir zum Glauben kommen, das ist dem Einfluß der Gnade zuzuschreiben. Und auch dafür lassen sich biblische Zeugnisse anführen, etwa aus dem Epheserbrief: „Denn durch die Gnade aufgrund des Glaubens seid ihr gerettet, und zwar nicht aus euch selbst, es ist Gottes Geschenk, nicht aus Werken, damit niemand sich rühme.“ Also durch Gnade aufgrund des Glaubens sind wir gerettet, „und zwar nicht aus euch selbst,“ als ob der Glaube vom Menschen komme, „sondern es ist Gottes Geschenk.“

Dieses Zusammenwirken von menschlicher Freiheit und Gnade ist vom heiligen Augustinus vor allem herausgestellt worden. Er sagt einmal: Wir beten doch, daß sich die Ungläubigen, die Irrgläubigen bekehren. Ja, wenn aber der Glaube allein Sache des freien Willens ist und nicht der Gnade, warum beten wir dann? Warum rufen wir dann Gott an? Dann müssen wir doch eigentlich nur appellieren an diese Menschen: Bekehrt euch! Was hat denn das Gebet für einen Sinn, wenn nicht die Gnade den Glauben schenkt? Also ist das Gebet um Bekehrung ein Beweis der Notwendigkeit der Gnade für den Anfang des Glaubens und des Heils.

Der dritte Satz lautet: Auch der Gerechtfertigte kann gute Werke nur tun, gute Werke, die für den Himmel verdienstlich sind, wenn er in der Gnade lebt, wenn die Gnade in ihm diese Werke anregt, wenn sie diese Werke begleitet und wenn sie sie vollendet. Dafür gibt es einen sehr schönen Beweis, meine lieben Freunde, denn wir beten ja immer darum, daß uns Gott gute Werke ermöglichen lasse. Es gibt da ein sehr schönes Gebet: „O Gott, komm unserem Tun mit deinen Eingebungen zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, damit all unser Beten und Handeln stets von dir seinen Ausgang nehme und durch dich seine Vollendung finde.“ Nicht wahr, da haben wir diese Wahrheit ausgesprochen. „Komm unserem Tun mit deinen Eingebungen zuvor und begleite es mit deiner Hilfe, damit all unser Beten und  Handeln stets von dir seinen Ausgang nehme und durch dich seine Vollendung finde.“

Auch dafür können wir uns auf biblische Zeugnisse berufen. Wenn der Apostel Paulus im Philipperbrief schreibt: „Gott wirkt das Wollen und das Vollenden,“ dann ist eben damit ausgesprochen, daß wir die Gnade brauchen, um als Gerechtfertigte, als im Gnadenstand Befindliche heilswirksam tätig zu sein, um gute Werke zu vollbringen, die für den Himmel fähig machen.

Wir sehen, meine lieben Freunde, daß alles auf die Gnade ankommt. Ohne Gnade vermögen wir nichts zu tun, und nur die Gnade kann uns erheben, aneifern und das Vollbringen schenken.

Am 16. Sonntag nach Pfingsten wird das im Kirchengebet in ganz ergreifender Weise gesagt. Da heißt es: „Wir bitten dich, Herr, unser Gott, deine Gnade komme uns immer zuvor und begleite uns und sie mache uns ständig bereit, das Gute zu tun.“ Das ist eigentlich die Zusammenfassung dessen, was ich versucht habe, Ihnen zu erklären. „Gott, deine Gnade komme uns immer zuvor“ – die zuvorkommende Gnade, „und begleite uns“ – die begleitende Gnade. „Sie mache uns ständig bereit, das Gute zu tun“ – die erweckende Gnade, die uns aufruft, das Gute zu tun um Gottes und seines Reiches willen.

Amen.

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