6. August 2017
„Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle!“
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
„Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle!“ Diese Warnung an die Korinther haben wir heute in der Epistel gehört. Sie ist an die ganze Kirche gerichtet. Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle. Die Existenz des Menschen, auch vor Gott, ist gefährdet. Der Apostel zeigt die Gefährdung am Beispiel Israels. So wie das ganze Volk Israel in seiner Weise, in alttestamentlicher Weise Taufe und Herrenmahl empfing und doch keineswegs alle Israeliten gerettet wurden, so kann auch den gläubig Gewordenen Taufe und Herrenmahl allein keine absolute Heilsgewissheit verbürgen. Es bedarf ernstlicher Anstrengung, eines stetigen Kampfes, um das Heil zu erreichen. Die Vorfahren des jüdischen Volkes sind die Träger der Heilsgeschichte, sind also auch unsere Vorfahren. Und was ihnen widerfuhr, das kann auch den Christen widerfahren. Es wurde für uns, die wir in den letzten Zeiten leben, aufgeschrieben. Paulus zählt dann im Einzelnen auf, welche Sorge Gott um das auserwählte Volk aufgewandt hat, um es zu führen, zu schützen und zu retten. Erstens: Die Israeliten waren unter der Wolke. Sie wurden ja von einer Wolkensäule bei Tage geführt und von einer Feuersäule bei Nacht, sodass sie unaufhörlich wandern konnten. Nie wich die Wolkensäule am Tage und nie die Feuersäule bei Nacht an der Spitze des Zuges. Zweitens: Die Israeliten gingen mitten durch das Meer auf trockenem Boden. Der ägyptische König setzte ihnen ja nach – er wollte seine Sklaven nicht verlieren, die aus dem Lande Ägypten auszogen – mit seinem Heere. Die Israeliten schienen verloren. Aber siehe da, als sie an das Meer kamen, das Rote Meer, da öffnete es sich und die Wassermassen standen rechts und links wie Mauern, und sie zogen trockenen Fußes hindurch. Ein wunderbares Eingreifen hatte sie gerettet. Drittens: Ein wenig später mangelte es dem Volk in der Wüste an Wasser. Es murrte gegen Moses: Warum hast du uns aus Ägypten herausgeführt, um uns und unsere Kinder und unsere Herden hier umkommen zu lassen? Doch der Herr erbarmte sich seines Volkes. Er hielt Moses an, mit dem Stab an den Felsen zu schlagen, und es strömte Wasser heraus, und sie tranken und ihre Herden tranken und sie wurden gerettet. Viertens: Auf der Wanderung hatten sie auch Mangel an Nahrung. Sie hungerten, und so murrten sie gegen ihre Führer Moses und Aaron: Wären wir doch im Lande Ägypten geblieben, bei den Fleischtöpfen Ägyptens, da hatten wir Fische und Gemüse und niemand hat gehungert. Doch der Herr verschaffte ihnen Fleisch und Brot vom Himmel. Alle aßen und wurden satt. Fünftens: Die Israeliten erlebten einen geistigen Felsen. Nach rabbinischer Überlieferung ging der Brunnen, den sie in der Wüste besaßen, mit ihnen hinauf auf die Berge und stieg mit ihnen hinab in die Täler. In diesem Felsen erkennt Paulus die geheimnisvolle Gegenwart des von Ewigkeit existierenden Christus. Aber allen Begnadigungen zum Trotz wurden die Israeliten schuldig vor Gott und durften das verheißene Land nicht sehen. Sie kamen in der Wüste um. „Sie sollen das Land nicht schauen, das ihren Vätern zugeschworen wurde. Keiner von allen, die mich verworfen haben, soll es sehen.“
Das Alte Testament ist nicht einfach ein historisches Buch, es hat vielmehr unmittelbare Gegenwartsbedeutung. Die im Alten Testament aufgeschriebenen Ereignisse haben einen tiefen Sinn für die christliche Gemeinde, für die Kirche. Sie sollen die Christusgläubigen der Heilszeit vor ähnlichen Verfehlungen warnen. Und jetzt zählt Paulus die einzelnen Gefährdungen auf, vor denen sie sich hüten sollen. Erstens: Die Christen sollen nicht begehren, wie einst die Israeliten begehrt haben. Was haben sie denn begehrt? Nun ja, Essen und Trinken. „Es befiehl sie ein Gelüste“, heißt es in der Heiligen Schrift, im Buche Numeri. Die Nahrung der Israeliten in der Wüste war bescheiden, und sie waren eben damit unzufrieden. Sie dachten an das Fleisch und die Fische, die in Ägypten reichlich vorhanden waren. Auch die Christen sollen nicht begehren, d.h. sie sollen Zucht und Mäßigkeit in Speise und Trank beobachten. Sie sollen zufrieden sein mit den Gaben, die Gott ihnen verleiht. Zweitens: Die Christen sollen keinen Götzendienst treiben, wie die Israeliten ihn trieben. Das Volk brachte Gott Opfer dar. Aber welchem Gott? Sie verfertigten ein goldenes Kalb und sagten: Das ist der Gott, der uns aus Ägypten geführt hat. Sie opferten diesem Kalb und verehrten es. Der Götzendienst der Christen sieht anders aus als jener der Israeliten. Selbstsucht, Selbstverliebtheit können zum Kult der Selbstanbetung führen. Der Hang nach Bequemlichkeit und die Lust am Genuss vermögen zur Gottvergessenheit zu verführen. Ist es nicht erschreckend, meine lieben Freunde, wohin unser Volk im Begehren und in Genusssucht gekommen ist? Gestern las ich: Jeder Deutsche wirft im Jahre 4 Kilo Fleisch weg – statistisch gerechnet. Drittens: Die Christen sollen sich nicht durch Unzucht versündigen, wie von den Israeliten berichtet wird. Als nämlich das Volk sich in Schittim niederließ, da fing es an, mit den Töchtern der Moabiter zu buhlen. Die Moabiter luden das Volk zu ihren Götzenfeiern ein. Das Volk nahm teilt, aß und betete ihren Gott an, den Gott Baal. Wenige Sünden, meine lieben Freunde, sind so einladend und verführerisch wie der Missbrauch des Geschlechtlichen. Im westlichen Europa ist seit geraumer Zeit die Seuche des Pansexualismus ausgebrochen. Die Verführung beginnt im Kindergarten, setzt sich fort in der Schulsexualerziehung und feiert Orgien auf Umzügen. Von Napoleon stammt das Wort: „Alle Tugend, die ganze menschliche Gesellschaft wird durch die Unsittlichkeit verpestet. Sie ist das größte Unglück des Volkes.“ Gott strafte das sündige Volk. Es wurden 24 000 Israeliten getötet, die Unzucht und Götzendienst getrieben hatten.
Die Ereignisse des Alten Testamentes sind geheimnisvolle Vorbedeutungen der Endzeit. Sie sollen die Gläubigen hellhörig und bedachtsam machen. Jedes falsche Selbstvertrauen soll ausgeschlossen sein; es gibt keine absolute Heilsgewissheit. Wer zu stehen glaubt, der sehe zu, dass er nicht falle. Die Warnung gilt schon im natürlichen, im alltäglichen Leben. Hier gibt es Wechselfälle, meine lieben Freunde, auf die man gefasst sein sollte. Aus Reichtum kann Armut, aus Gesundheit kann Krankheit, aus Ansehen kann Schande werden. Die Heilige Schrift mahnt: „Zur Zeit des Glücks vergiss nicht das Unglück. Denn das Glück ist blind und macht blind.“ „Glück und Glas, wie leicht bricht das“, sagt der Volksmund. Campagna felice, glückliches Land, nennen die Italiener die wundervolle Landschaft um den Golf von Neapel, wo die Sonne immer lächelnd am Himmel strahlt, wo in üppiger Fruchtbarkeit Wein, Orangen, Zitronen, Feigen und Pfirsiche gedeihen. Und doch steht über all dieser Herrlichkeit die Wolke über dem Vesuv und mahnt, dass ein einziger Ausbruch das ganze Paradies in Wüste verwandeln kann, wie es schon einmal geschehen ist. Am 24. August 79 brach der Vesuv aus und zerstörte die Städte Pompeji und Herculaneum. Das Leiden kann über die Menschen kommen, und es wird kommen; es bleibt keinem erspart. Goethe hat dieses Gesetz auf seine Weise ausgesprochen: „Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht! Sie halten die Herrschaft in ewigen Händen, und können sie brauchen, wie’s ihnen gefällt. Der fürchte sie doppelt, den sie erheben! Auf Klippen und Wolken sind Stühle bereitet um goldene Tische. Erhebet ein Zwist sich: So stürzen die Gäste geschmäht und geschändet in nächtliche Tiefen und harren vergebens, im Finstern gebunden, gerechten Gerichts.“ So schildert Goethe das unvermutete Hereinbrechen des Unglücks, des Leidens. Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle. „Stehen“ bedeutet hier, sich im Gnadenstand befinden, und „fallen“ bedeutet, aus der Gnade herausfallen. Der Absturz kann plötzlich erfolgen, unerwartet, scheinbar überraschend, aber das Innere war schon morsch, und dann ist es bei passender Gelegenheit zusammengebrochen. Bei anderen schmelzen Glaube und Tugend langsam, fast unmerklich dahin. Das religiöse Leben lässt nach, das Gebet unterbleibt, der Besuch des Gottesdienstes wird eingestellt, das Streben nach Gutem wird immer schwächer; denn mancher, der im Geiste begonnen hat, hat im Fleische geendet. Ich denke im Lutherjahr mit besonderer Aufmerksamkeit und mit besonderem Schmerz an die nicht wenigen Bischöfe, die sich der lutherischen Revolte angeschlossen haben. Was heißt es: zusehen, dass man nicht falle? Worauf muss man achten? Erstens: Man muss ein Kämpfer sein. Der Christ kämpft gegen das Fleisch, die Welt und den Teufel. Dieser Kampf kennt keinen Waffenstillstand. Denn die böse Begierlichkeit begleitet uns durch das ganze Leben. „Leben heißt kämpfen“, sagt schon der weise Heide Seneca. Solange wir in der Welt leben, können wir nicht ohne Versuchungen sein. Niemand ist so vollkommen, dass er nicht zuweilen Versuchungen hätte. „Kein Stand ist so heilig, kein Ort so abgeschieden, wo es nicht Versuchungen gäbe“, schreibt das Buch von der „Nachfolge Christi“. „Niemand sage sich, er habe keine Versuchungen zu befürchten. Wer so sagt, verspricht sich Frieden. Aber der sich Frieden verspricht, der bietet dem Angreifer ein dankbares Ziel.“ Zweitens: Damit man nicht fällt, muss man wachsam sein. Der Herr hat ja so oft zur Wachsamkeit aufgerufen: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“ „Wachet! Denn ihr wisst nicht den Tag, an dem der Herr kommt.“ Paulus gab die Mahnung des Herrn weiter: „Lasst uns nicht schlafen wie die anderen, sondern wachen und nüchtern sein. Seid wachsam, steht fest im Glauben.“ Je kräftiger man in seinen Anfängen dem Bösen widersteht, desto weniger Mühe hat man damit. „Widerstehe zu Beginn, zu spät wird das Mittel bereitet“, sagt der heidnische Dichter Ovid. Drittens: Zusehen, dass man nicht fällt, heißt: die Gelegenheit zum Falle meiden. Die Volksweisheit sagt: „Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um.“ Niemand ist vor schlimmen Gedanken sicher, und da lauert die Sünde. Die Sünde beginnt immer im Kopf, in der Vorstellung, in einer gefährlichen Vorstellung. Der gefährdete Mensch findet Gefallen daran, es steht in ihm der Wunsch auf, das Vorgestellte zu besitzen. Er fasst den Entschluss, das Begehrte sich anzueignen, und wenn die Gelegenheit günstig ist, da vollbringt er die schlimme Tat. Wer glaubt zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle. Viertens: Ein wirksames Mittel gegen den Fall ist der Gedanke an das Ende des Lebens. „Denk an den Tod, mein Christ, was denkst du anders viel? Man denkt nicht Nützlicheres, als wie man sterben will“, hat unser schlesischer Dichter Angelus Silesius gedichtet. Denk an den Tod, mein Christ, was denkst du anders viel? Man denkt nichts Nützlicheres, als wie man sterben will. Und der heidnische Kaiser Marc Aurel hat einmal geschrieben: „All dein Tun und Denken sei so beschaffen, als solltest du möglicherweise im selben Augenblick dein Leben beenden“, Marc Aurel, der Heide. „Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle“, mahnt der Apostel Paulus. Kein Christ soll sich in falscher Heilssicherheit wiegen. Wir tun alles – hoffentlich! –, um das Heil zu erlangen, aber im Christentum gilt der Grundsatz: Genug ist nie genug.
Es ist trügerisch, sich mit dem Verhalten der Mehrzahl der Menschen zu beruhigen. Die Gottvergessenheit vieler ist keine Bürgschaft für rechtes Handeln. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, wie verführbar die große Menge ist. Wer sich an sie anschließt, wird mit ihr zugrunde gehen. Kein Christ soll sich in falscher Heilssicherheit wiegen. Verlassen Sie sich nicht auf einschläfernde Thesen von Theologen. Es gibt zu viele von ihnen, die nicht den Sinn des Herrn haben, die „Friede, Friede“ sprechen, obwohl kein Friede ist, die die Moral umdeuten, autonome Moral, teleologische Moral erfinden; das sind Verirrungen! Sie täuschen sich selbst und andere. Hören wir auf die Mahnungen unserer Väter im Glauben: „Wer meint zu stehen, der sehe zu, dass er nicht falle.“ „Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern“, mahnt derselbe Paulus. „Sehet zu, dass euch niemand irreführe. Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin Christus.“ „Täuschet euch nicht. Gott lässt seiner nicht spotten.“
Amen.