7. September 2003
Das Abenteuer, das wir Gott nennen
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Wir haben an vielen vergangenen Sonntagen die Abenteuer des Lebens betrachtet. Es bleibt uns heute noch ein Abenteuer zu bedenken, das auf dem Gipfel aller Abenteuer steht, nämlich das Abenteuer, das wir Gott nennen. Es könnte einen zunächst erstaunen, daß auch Gott ein Abenteuer ist, aber er trägt die beiden wesentlichen Merkmale des Abenteuers an sich, nämlich erstens die Ungewißheit und zweitens das Wagnis. In Gott ist immer etwas Unberechenbares. Alle unsere Meinungen, Annahmen, Voraussagen werden von ihm ad absurdum geführt. Es ist eine Unsicherheit um Gott. Und es ist auch ein Wagnis, zu Gott zu gehen. Es ist ein Wagnis deswegen, weil es ein Sprung in die Finsternis ist. Wer zu Gott kommt, der springt in das Dunkel hinein, und es ist eine Frage, ob dieser Sprung gelingt. Wenn er gelingt, dann ist das Ende eine endlose Seligkeit; wenn er mißlingt, ist nicht auszudenken, was dem Menschen beschieden ist.
Das Abenteuer Gott ist freilich sehr verschieden, je nachdem, ob man zu den Harmlosen gehört, die sich um Gott wenig kümmern, oder ob man zu den Wissenden gehört, die Gott kennengelernt haben und die eine Heimat bei ihm gefunden haben. Die Harmlosen, diejenigen, die sich um Gott nicht weiter scheren, diese Harmlosen sind Menschen, die Gott am Rande ihres Bewußtseins stehen lassen. Man sollte meinen, daß der Weg zu Gott nicht schwer ist, denn die Himmel künden seine Herrlichkeit, jedes Stäubchen der Erde, jede Pflanze und jedes Tier ruft sein Lob. Und die Menschen sprechen von Gott. Sie erzählen von ihm, sie unterweisen ihre Kinder von Gott. So sollte man meinen, daß Gott allen Menschen vertraut ist. Aber gerade dieses Reden und vielleicht dieses viele Reden von Gott trägt dazu bei, daß die Menschen es als eine alltägliche Sache ansehen, von Gott zu sprechen, daß es für sie hinter dem Wort keinen Begriff und hinter dem Begriff keine Wirklichkeit mehr gibt. Viele Menschen bleiben deswegen in dürftigen religiösen Redensarten stecken, die sie als Kinder gelernt haben. Diese Redensarten zu gebrauchen und weiterzusagen, das nennen sie ihre Religion und ihre Frömmigkeit.
Nun sind die Erscheinungen Gottes in Natur und Geschichte auch von einer Dunkelheit umgeben; sie haben ihr Dunkel an sich. Und wer nicht eigens acht gibt und hinsieht, der läuft Gefahr, daß er Gott übersieht. Vor der Menge der oberflächlichen Eindrücke und Geschehnisse besteht die Gefahr, daß der arme, kleine Mensch nicht mehr ein und aus weiß, daß er damit beschäftigt ist, seinen Bedürfnissen nachzugehen, den augenblicklichen Verlegenheiten abzuhelfen und die Suche nach Gott aufzuschieben, bis er einmal Zeit hat. Aber die Zeit kommt nicht. Die vielen anderen Sorgen, das Essen und das Trinken, das Wohnen und das Arbeiten und das Genießen beschäftigen sie so, daß sie keine Muße haben, über Gott nachzudenken. Diese Muße kommt nicht und kommt nicht.
Nun sind alle diese Menschen ja nicht von Gott verlassen. Sie kennen ihn, sie nennen ihn, aber sie sind niemals innegeworden, was es eigentlich um Gott ist, um seine Größe und seine Herrlichkeit. Sie haben sich niemals um Gott besonders bemüht und sich um ihn geplagt. Gott steht weit draußen in ihrem Gesichtskreis. Gott ist für sie eine Ausflucht. Auf sie schieben sie alles ab, was unerklärbar ist. Das, was unverständlich ist im Leben und in der Welt, das wird Gott zugeschoben, und wenn sie nicht mehr ein und aus wissen, dann gehen sie zu Gott, dann ist er der bequeme Nachbar, der rasch und schnell nach ihrem Sinne helfen soll. Er ist wie ein Nothelfer, zu dem man geht, wenn man etwas braucht. Wenn man sich nicht selbst mehr anders zu helfen weiß, dann fängt man an zu beten. Alle diese Menschen sind noch nicht vorgedrungen bis vor das Angesicht, bis vor die überwältigende Nähe Gottes. Sie zählen zu den Harmlosen. Ihnen ist das Gehen zu Gott noch kein Wagnis, keine Kühnheit. Das Abenteuer Gott hat für sie erst einen vorläufigen Sinn. Es bedeutet das furchtbare Ungefähr, ob sie je aus ihrer Unbekümmertheit herauskommen, ob sie je wirklich mit Gott zusammentreffen und ringend, jubelnd, erschreckend den Weg zu Gott finden.
Anders ist es mit den Wissenden, mit den Menschen, die bereits erkannt haben, tief innerlich und unverlierbar, daß Gott etwas Großes, etwas Überwältigendes, ja das einzig Große ist, das es gibt, daß alles vor ihm verschwindet, daß alles gleichgültig wird, wenn Gott es beiseite schiebt, daß alle wirklich maßgebenden und endgültigen Entscheidungen in Gott liegen. Wer an die Schwelle des Abenteuers Gott vorgedrungen ist, der weiß vor allem um das Leid, um das unbeschreibliche und unermeßliche Leid um Gott. Dieses Leid enthält zahllose und ruhelose Fragen, auf die man keine Antwort bekommt. Es enthält Unbegreifliches, welches das Herz in Schrecken und Staunen versetzt. Es enthält ein Zweifeln und ein Irrewerden an sich selbst und an Gott, ein Bangen um sich und um Gott.
Wer die Schwelle des Wagnisses zu Gott überschritten hat, der weiß freilich auch um die göttliche Lieblichkeit, um die Seligkeiten, die von ihm ausgehen, um die Kräfte, die er verschenkt. Da bekommt das Leben zum erstenmal einen Sinn, eine Schönheit und eine Tiefe. Alles Harte und Widerwärtige bleibt am Rand des Lebens; in der Mitte aber ist das Wissen um Gott und ist das Ruhen in Gott. Dieses Ruhen in Gott ist nicht eine flache Vertauensseligkeit, wie sie die Harmlosen beweisen. Nein, dieses Ruhen in Gott ist eine Selbstlosigkeit, eine Selbstvergessenheit. Diejenigen, die um Gott wissen, fragen nicht mehr, wie es ihnen geht, sondern sie fragen nur, wie Gott mit ihnen verfügt. Gott ist da. Vor dieser Tatsache, unbegreiflich und unbeschreiblich, schweigen alle Nöte, alle Anliegen, alle Ratlosigkeiten des kleinen Herzens. Dieses Vertrauen zu Gott ist die Frucht einer demütigen, einer großmütigen Liebe. Das Eigenartige bei den Wissenden ist, daß Leid und Glück, Leid und Seligkeit gleichzeitig in ihnen wohnt. Gott ist ihre Ruhe und zugleich ihre Ruhelosigkeit; er trägt sie, aber er schüttelt sie auch; er liebkost sie und schlägt sie. Er ist ihr übermächtiges Schicksal und zugleich ihre Heimat. Jeden Tag steht Gott neu vor ihnen als Rätsel, als Ruf, als Aufgabe, als Sorge, als Unbegreiflichkeit, als nahes und unerreichbares Glück. Man wird nicht fertig mit Gott.
In den Wissenden ist auch die Furcht Gottes. Nicht die panische Angst des Sklaven, sondern die Furcht Gottes, die im Weltlauf begründet ist. Die Welt hat ihre Schrecken. Sie alle wissen es, meine lieben Freunde, und die Nachrichten bringen es uns fortwährend zu Gehör. Die Welt hat ihre Schrecken. Es geschehen entsetzenerregende Dinge auf dieser Welt. Man weiß oft nicht, wozu und wieso das geschieht, welches der Sinn ist. Es ist wirklich nicht leicht, die Furcht vor Gott abzulegen, zu überwinden, denn wir leben in einem von Schrecken erfüllten Weltall.
Und doch ist Gott kein Schrecken. Der Mensch, der vor Gottes Angesicht angekommen ist, der hat nicht mehr die zitternde Angst, die geschlagenen Tieren zu eigen ist. Der Mensch, der vor Gott angekommen ist, der empfindet, daß es Erleuchtung und Klarheit gibt, daß es Wohltun und Vertrauen gibt. Vor Gott brauchen wir nicht zu zittern wie rechtlose Sklaven, die einer unverständlichen Willkür ausgeliefert sind. Aber ein Zittern bleibt doch, eine Bangigkeit, nämlich die Bangigkeit vor der Liebe, die man nicht fassen kann, und vor der Liebe, der man niemals genügen kann. Diese Bangigkeit ist vereinbar mit kindlichem Zutrauen, denn das ist schließlich ein und dasselbe.
Das ist also das eigentliche Abenteuer Gott, das nicht bloß in der Unzulänglichkeit unseres Gottesbegriffes besteht, in unserem Nichtwissen, in unserer Gedankenleere, sondern das besteht in der Nähe bei Gott selbst, in dem Wissen und dem Erfülltsein von Gott. Da beginnt es erst, das Abenteuer Gott. Es enthält in sich das größte Leid und die seligste Freude, eine zitternde Ehrfurcht und eine furchtlose Geborgenheit.
Wie gelangt man zu diesem Abenteuer Gott? Es gibt, meine Freunde, keine Anweisungen, es gibt keinen Fahrplan, es gibt keine Verfahren und keine Formulare, wie wir dieses Abenteuer Gott erreichen. Auch mit einer Häufung von Gebeten, von Betrachtungen können wir das Abenteuer Gott nicht erzwingen. Es wird uns geschenkt von Gott selbst. Gott selbst ist es, der den Menschen ergreift und an sich zieht, der ihn zu sich reißt und in sich hineinreißt, der ihn in sich hineinnimmt. Aber durch dieses Abenteuer Gott muß ein jeder Mensch hindurchgehen. Es wird überstanden, weil es nur eine Strecke ist, über die man steigt. Nur in diesem rätselhaften Leben, nicht im Jenseits, nur in diesem rätselhaften Leben ist es möglich, in Gott ein Abenteuer zu erleben. Und vielleicht ist dieses Leben deswegen so rätselhaft, weil Gott uns noch ein Abenteuer sein kann, Gott, der immer und überall erscheint und doch nirgends ergriffen werden kann, Gott, der immerfort auf uns zukommt und den wir doch nie einholen. Aber eines Tages wird das Abenteuer aufhören.
Wir haben die Abenteuer des Lebens bedacht, von der Kindheit über die Ehe, zum Glück und zum Leid. Wir dürfen vermuten, daß Gott in allen diesen Abenteuern war, daß er der Ton war, den wir in allen diesen Abenteuern gehört haben, daß wir diesem geheimnisvollen Ton nachgezogen sind und daß er es war, der uns in diese Abenteuer führte, in all diese Ungewißheiten, aus denen unser Leben besteht, wenn es ein wirklich erfülltes Leben ist. Und dieser Ton, der uns lockte und rief, war nichts anderes als der Gesang, der von den ewigen Hügeln herübertönt, süß und wild und werbend. Dort aber auf diesen Hügeln steht Gott. Und Gott war das Lied unseres Lebens.
Amen.