7. Mai 2006
Die Pflicht, zu beten
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Geliebte im Herrn!
Unser Verhalten vor Gott darf nicht nur in ehrfürchtigem Schweigen bestehen. Es kann auch nicht bloß ein jauchzendes Entzücken sein. Nein. Wenn Gott eine Person ist, dann dürfen wir mit ihm reden. Wir dürfen zu Gott sprechen; wir dürfen ihm sagen, was unser Herz bewegt, denn er ist ein persönlicher Gott. Wir dürfen beten, und das Beten ist ein heiliges Müssen und ein frohes Dürfen. Wir wollen drei Punkte über das Gebet uns heute überlegen, nämlich erstens unsere Gebetspflicht, zweitens den Gebetssegen und drittens die Art und Weise des Gebetes.
Wir haben eine Pflicht, zu beten, und zwar schon von Natur aus. Beten heißt mit Gott reden, ihm danken, ihn loben, vor ihm sühnen und ihn bitten. Nicht jeder Gedanke an Gott ist ein Gebet. Wir können stundenlang an Gott denken, ohne zu beten. Beten heißt eben mit dem gegenwärtigen Gott reden – Reden mit dem gegenwärtigen Gott, und dabei immer bedenken: Jedes Gebet ist Anbetung. Das heißt, bei jedem Gebet wissen wir, dass wir vor dem allmächtigen und gewaltigen Gott stehen. Es ist ein Anerkennen seiner Macht und seiner Größe und seiner Herrlichkeit.
Die Gebetspflicht ergibt sich aus mehreren Gründen. Die Natur preist Gottes Herrlichkeit und Größe. „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“, so hat Ludwig van Beethoven den 18. Psalm vertont. Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre. Und dann zählt er eben auch, wie es im Psalm ja steht, dass die Sterne und die Sonne und der Mond Gott preisen. Da darf der Mensch nicht stumm bleiben. Auch der Mensch gehört zur Natur, und ihm hat Gott das Wissen um die Pflicht gegeben, Gottes Größe und Macht anzubeten. Wir haben als Geschöpfe eine Gebetspflicht. Wir haben sie natürlich auch und noch mehr als Erlöste. Wir müssen dankbar sein, was Gott in seinem Christus für uns getan hat. Und so jubelt die Kirche in fast jeder heiligen Messe ihr Gloria Gott entgegen: Ehre sei Gott in der Höhe. Und so spricht sie in jedem Psalm das „Ehre sei dem Vater“. Wir Priester beten fast an jedem Tage das Te deum, das „Großer Gott, wir loben dich“ und das Magnificat. Wir müssen also Gott loben und ihm danken.
Wir dürfen ihn auch bitten. Meine lieben Freunde, über das Bittgebet sind manche falsche Vorstellungen im Schwange. Gott braucht unser Bittgebet nicht, aber wir brauchen es. Die Gebete, die wir zu Gott emporsenden, sollen uns der Gaben Gottes würdig machen. Wir sollen uns im Gebet tauglich machen, das zu empfangen, was wir erbitten. Wir sollen anerkennen, dass wir alles von ihm haben und dass wir alles von ihm erwarten. Gott will, dass wir die Hände ausstrecken, um seine Gaben entgegenzunehmen. Wir beten auch nicht, um Gott unsere Nöte bekannt zu machen. Die kennt er lange. Er ist allwissend. Wir sagen ihm nichts Neues, wenn wir unsere Bittgebete sprechen. Wir beten auch nicht, um seine Ratschlüsse zu ändern. Seine Ratschlüsse sind unabänderlich; aber Gott hat in diese Ratschlüsse unser Gebet eingebaut. Er hat von Ewigkeit her gesehen, was wir in Gebeten vor ihn tragen. Und diese Gebete hat er in seine Ratschlüsse einbezogen. Er will, dass wir seine Pläne erfüllen, indem wir beten. Er hat gewollt, dass wir betend vor sein Angesicht treten. Unsere Menschennatur und unser Erlöstsein ruft uns zum Gebet.
Aber damit nicht genug. Wir haben auch das Mahnwort und das Beispiel unseres Heilandes Jesus Christus. Wie oft hat er zum Gebete aufgerufen! „Wachet und betet allezeit!“ „Betet für die, die euch verfolgen!“ „Betet, dass ihr nicht in Versuchung fallet!“ „Bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende!“ „Bittet, und ihr werdet empfangen!“ Und er hat uns ein eigenes Gebetsformular geschenkt, das „Unser Vater“. Durch sein Wort ruft uns der Herr zum Gebet, aber auch durch sein Beispiel. Sein ganzes Leben ist vom Gebet durchzogen. Als er auf die Erde kam, da sangen die Engel das Loblied Gottes, und als er nach Jerusalem zog mit seinen Eltern, da umspielten ihn die Wallfahrtslieder der Pilger. Er hat nichts Wichtiges unternommen, ohne vorher zu beten. Als er seine Apostel berief, da verweilte er, wie uns Lukas berichtet, die ganze Nacht im Gebet. Bevor er die fünftausend Menschen in der Wüste speiste, hat er den Blick zum Himmel erhoben und gebetet. Am Grabe des Lazarus hat er zum Vater gebetet: „Vater, ich danke dir.“ Und als der Herr zum Letzten Abendmahl in den Saal ging, da hat er betend zum Himmel aufgeschaut und dem Vater Dank gesagt. Nachher sprach er den Lobgesang, und sie zogen zum Ölberg, betend. Am Ölberge hat er betend sein Leiden begonnen, und mit einem Gebet hat er sein Leiden am Kreuz abgeschlossen. Der Heiland hat viel und innig gebetet, allein und im Beisein anderer, im Tempel und in Gottes freier Natur, und mahnt uns deswegen durch sein Beispiel, zu beten.
Zum Beten ruft uns aber auch die Kirche. Wozu hängen denn die Glocken auf unseren Türmen? Um uns zum Gebet zu rufen, um uns zum Gottesdienst einzuladen. Sie mahnen uns, das Gebet nicht zu vergessen, zumal wenn es zum „Engel des Herrn“ läutet, dreimal am Tage, um 6, um 12 und abends um 18 Uhr. Da sollen wir uns dankbar unseres Erlösers erinnern. Die Kirche gibt uns Priestern das Breviergebet in die Hand. Über eine Stunde jeden Tag kostet uns das Breviergebet. Und sie gibt uns den Rosenkranz und die vielen anderen Gebete. „Betet“, so lautet der Ruf der Kirche. Und ihre Heiligen haben uns ihrerseits zum Gebet gemahnt. Die heilige Theresia von Avila hat einmal geschrieben: „Wenn es einen Berg gäbe, der die ganze Erde überschaut, dann würde ich auf diesen Berg steigen; und wenn ich eine Stimme hätte, die alle hören könnten, dann würde ich mit dieser Stimme sagen: Betet, Menschenkinder, betet!“ Der heilige Alphons von Liguori sagt: „Alle Heiligen des Himmels sind in den Himmel gekommen, weil sie gebetet haben, und alle Verdammten sind verloren gegangen, weil sie nicht gebetet haben.“ Es ist also unsere Pflicht, zu beten.
Aber das Gebet trägt auch seinen Segen in sich. Meine lieben Freunde, das Gebet ist eine Gnadenquelle, ähnlich den Sakramenten. Der erste Segen des Gebetes ist die Gottvereinigung. Ja, tatsächlich, das Gebet ist eine Art Kommunion, nämlich Vereinigung mit Gott. Bei diesem Kontakt, bei dieser Berührung mit Gott strömt Gottes Gnade in uns über, macht uns Gott ähnlicher und verbindet uns inniger mit ihm. Wir steigen beim Gebet gewissermaßen auf den Berg Tabor hinauf und werden vor dem Herrn und mit dem Herrn verklärt. Das Gebet bringt uns aber auch zweitens Licht und Kraft von oben. Unsere Gesinnung, unsere Seelenhaltung wird im Gebet immer mehr Gott ähnlich. Im Gebet strömt göttliches Licht in unseren Verstand, so dass wir das Rechte erkennen und himmlisch gesinnt werden. Im Gebet wird uns auch Kraft zuteil für unseren Willen, dass wir das Böse meiden und das Gute tun können. Wie viele Menschen erfahren in der Stunde der Versuchung die Kraft des Gebetes! Wahrhaftig, meine lieben Freunde, wenn wir immer in der Versuchung beten würden, dann würden wir ihr niemals erliegen. Sie macht uns stark, die Gebetshaltung, sie macht uns stark im Ertragen und Entsagen. Das Gebet bringt uns aber auch Hilfe und Trost. Als Petrus im Gefängnis war, da betete die Kirche ohne Unterlaß. Und siehe da, ein Engel des Herrn brach die Ketten entzwei und führte Petrus in die Freiheit. Wievielmal hat die Kirche, wievielmal hat der Einzelne den Segen des Gebetes erfahren!
Wenn ich an Wallfahrtsorte komme, halte ich mich gern vor den Votivtafeln auf. Da haben die Menschen ihre Dankbarkeit niedergelegt. „Maria hat geholfen“ „Maria hat geholfen“ „Maria hat geholfen“. Es ist ganz ergreifend, das zu lesen. Und doch hängt nur ein Bruchteil der Tafeln an den Wänden, denn viele Menschen haben keine solche Tafel aufgestellt, obwohl auch sie erhört wurden. Und wenn sie nicht unmittelbar in ihren Bitten erhört wurden, dann sind sie doch gestärkt von dannen gegangen. Es gibt auch eine Erhörung auf andere Weise, als wir es uns vorstellen. Gottes Weisheit geht über unser Empfinden hinaus, und wenn etwas für uns nicht heilsam ist, dann muss es uns Gott versagen. Aber auch die – ich sage es noch einmal – die äußerlich ohne Erhörung blieben, gehen gesegnet und gestärkt nach Hause.
Das Gebet bringt viertens auch inneren Reichtum für uns und für andere. Das Gebet entfaltet unsere Tugenden, es stärkt den Glauben, es festigt die Hoffnung, es entzündet die Liebe. Durch das Gebet wird unser Tugendleben gestärkt. Wir erwerben uns übernatürliche Verdienste und himmlischen Lohn. Das Gebet hat auch sühnende Kraft, weil es unsere sinnliche Natur ein Opfer kostet, mit Gott zu sprechen, und wir werden zeitliche Sündenstrafen los. Ich erinnere mich, als ich im Studium in München war, als einmal unser Dogmatikprofessor darüber sprach, wie könne man denn Gebetsbußen aufgeben, also Bußen im Bußsakrament, die aus Gebeten bestehen, wo doch Buße soviel wie Strafe bedeutet. Das Gebet ist doch eine Freude. Und er beantwortete diese Frage dahin: Ja, weil unsere sinnliche Natur lieber vor dem Fernseher hockt oder in der Zeitung liest, deswegen ist das Gebet für uns eine Buße. Es ist zu anstrengend für unsere sinnliche Natur. Tatsächlich, das ist die Lösung des Rätsels. Das Gebet besitzt sühnende Kraft, weil es unsere sinnliche Natur ein Opfer kostet. Im Gebet werden wir auch Apostel der Kirche. Wir können mit unserem Gebet unsere Missionare beschenken. Bis in die entferntesten Missionsländer dringt unser Gebet und bis in die Tiefe des Fegefeuers. Vor allem aber erlangen wir im Gebet die Gnade der Beharrlichkeit im Guten bis zum Ende. Das ist der Segen des Gebetes, meine lieben Freunde.
Aber wir müssen auch in der rechten Art und Weise beten. Das heißt erstens mit Andacht. „Wer mit Gott sich will befassen, muss die Welt heraußen lassen.“ Wir müssen also gesammelt sein und unsere Gedanken auf Gott richten. Es darf uns nichts anderes beschäftigen; wir müssen Geist und Herz bei Gott haben. Das geschieht gewöhnlich leichter, wenn wir um uns herum Stille haben. Die Stille im Äußeren fördert unsere Sammlung im Inneren. Die äußere Sammlung soll die innere begleiten. Deswegen ist es so gut, im schweigenden Gotteshaus zu beten oder im stillen Kämmerchen. Freiwillige Zerstreuungen sind sicher nicht nach Gottes Willen, sie können sogar sündhaft sein. Aber unfreiwillige Zerstreuungen sind keine Sünde, und sie kommen über jeden. Ich habe, meine lieben Freunde, ein nie versagendes Mittel, um trotz der Zerstreuungen andächtig zu beten, und dieses Mittel besteht darin, dass die Gedanken, die uns nicht loslassen, die uns beschäftigen, die uns beunruhigen, die uns besorgt machen, dass wir diese Gedanken in das Gebet hineinnehmen, dass wir gerade für das beten, was uns nicht loslassen will. Dann wird also das, was von Natur oder durch den bösen Feind uns an Zerstreuungen suggeriert wird, sogar noch zu einer Segensquelle.
Zweitens müssen wir beten mit Demut. Wir müssen alles von Gott erwarten und gleichzeitig wissen, wie unwürdig wir seiner Erhörung sind. Ein rechtes Gebet muss demütig sein. Denken Sie an das ergreifende Gleichnis von dem stolzen Pharisäer und dem armen Zöllner. Der Pharisäer stellte sich erhobenen Hauptes hin und pries seine Tugenden. Der demütige Zöller stand hinten, nicht vorne, klopfte an die Brust als Zeichen seiner Zerknirschung und sprach: „Gott, sei mir armen Sünder gnädig.“ Das war ein Gebet, wie Gott es haben will. Er ging gerechtfertigt nach Hause, der Pharisäer nicht.
Das Gebet muss drittens vom Vertrauen begleitet sein. Denken wir etwa an das Gebet unseres Herrn am Ölberg. „Mein Vater“ – da liegt das ganze Vertrauen des Sohnes in den Vater drin. „Mein Vater“ – so muss auch unser Gebet vertrauensvoll sein, denn das Maß des Vertrauens ist das Maß der Gnade. Je mehr wir vertrauen, desto mehr erhalten wir. Und die Wunder des Heilandes zeigen uns ja immer wieder, wie vertrauende Menschen zu ihm gekommen sind. Die Wunder, die er gewirkt hat, belehren uns über das vertrauensvolle Beten. Der Synagogenvorsteher Jairus kam, um für seine Tochter zu bitten, und der Herr hat sich in das Haus begeben und sie gesund gemacht. Die blutflüssige Frau dachte bei sich: Wenn ich nur den Saum seines Gewandes berühre, werde ich gesund. Und sie wurde gesund. Der Hauptmann von Kapharnaum spricht zum Herrn: „Sprich nur ein Wort.“ Da liegt sein ganzes Vertrauen drin. Und der Herr spricht dieses Wort, und sein Knecht ward gesund. Der Herr hat uns zum vertrauensvollen Gebet gemahnt: „Glaubet nur, dass ihr erhaltet, was ihr erbittet, und es wird euch zuteil werden.“
Wir müssen aber viertens auch mit Ergebung gegen Gottes Willen beten. „Mein Vater, nicht mein Wille geschehe, sondern der deine. Kann dieser Kelch nicht an mir vorübergehen, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille.“ So muss also auch unser Gebet ergeben sein. Nicht mit einem geheimen Aufruhr im Herzen: Wenn er jetzt das nicht gewährt, unser Gott, dann will ich nichts mehr von ihm wissen. Nein, in Ergebung müssen wir unsere Gebete vor ihn bringen. „Ich weiß, wie eitel und wie blind der Menschen Wünsche oftmals sind. Du weißt, was uns nützlich ist und gibst es, weil du gütig bist.“ Mit Ergebung müssen wir beten, und schließlich mit Beharrlichkeit. Vom Herrn wird berichtet, dass er am Ölberg dreimal nacheinander zum Vater flehte. Und er hat uns auch das Wort hinterlassen: „Man muss allezeit beten und darf nicht nachlassen.“ Der Herr schildert das in einem Gleichnis. Da kommt einer in der Nacht zu seinem Freunde und will drei Brote haben. Ja, sagt der, ich kann sie dir nicht geben. Meine Kinder sind bei mir; ich mache ja alles mobil, wenn ich jetzt aufstehe. Aber der andere lässt nicht nach in seinem Bitten und Klopfen. Dann steht er auf wegen der Zudringlichkeit des Mannes und gibt ihm die drei Brote. So sollen wir also auch beharrlich beten. „Klopfet an, und es wird euch aufgetan werden.“ Meine lieben Freunde, eines der schönsten Gebete der heiligen Messe ist immer dann, wenn der Priester sich umwendet und zu dem Volke spricht: „Betet, Brüder, dass mein und euer Opfer wohlgefällig werde bei Gott, dem allmächtigen Vater.“ Das wollen wir wiederholen, und das wollen wir uns zu Herzen gehen lassen: Betet, Brüder, damit unser Opfer wohlgefällig werde bei Gott, dem allmächtigen Vater.
Amen.